Archiv der Kategorie: Soziales

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen sozialen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Begegnung

In Corona-Zeiten erfahren die zwischenmenschlichen Beziehungen erhebliche Einschränkungen. Die selbstverständlichen Begegnungen mit anderen Menschen, das Treffen, das gemeinsame Essen und Feiern, der Handschlag, das Küssen, das Umarmen, all dies entfällt, der andere Mensch bleibt auf Sichtweite oder ist überhaupt nur über Telefon oder virtuell zugegen.

Können wir auf die persönliche Begegnung verzichten, ersetzen virtuelle Begegnungsformate die reellen? Finden wir nach der Corona-Zeit wieder zu unseren Gewohnheiten, die wir zuvor lustvoll pflegten, zurück? Es dürfte schwerfallen, jetzt schon schlüssige Antworten zu geben, aber sinnvoll ist es, sich vorbereitend damit auseinanderzusetzen, ob virtuelle Formate, Zoom-Konferenzen und Begegnungen auf Abstand ohne Weiteres in der Lage sind, unsere körperlichen Gewohnheiten der Begegnung zu ergänzen oder zu ersetzen.

Von Geburt an erfahren wir Menschen den realen Raum und orientieren uns durch Tasten, Sehen und Riechen. Alle unsere Sinne spüren Möglichkeiten und Grenzen auf, werden während unseres Lebens grandios darin geschult, uns in einer Wirklichkeit mit anderen Menschen zurechtzufinden. Dieses Zurechtfinden benötigt den Raum, der uns verloren geht, wenn wir uns digital raumlos begegnen, einen anderen Menschen weder berühren, noch riechen, ihm nicht ausweichen müssen, sondern ihn einfach wegdrücken können, so wie wir dies heute bei vielen Videokonferenzen ohnehin schon machen. Abstand gewinnen wir so nicht mehr durch Ausweichen, sondern durch Abschalten. Dies beansprucht unsere körperlichen Fähigkeiten nicht.

Der Raum, der im Internet für uns geschaffen wird, lässt vielleicht Avatare, aber den lebendigen Menschen nicht mehr wesentlich zu. Andere Menschen, denen wir bei Videokonferenzen begegnen, sind für uns körperlich unerreichbar. Wir können an ihnen deshalb unsere Fähigkeiten der Zuneigung nicht mehr erproben. Deshalb sollten wir uns eine Zeit wünschen, in der wir anderen Menschen tatsächlich wieder selbstbestimmt ausweichen können oder müssen, sie aber auch umarmen dürfen, wenn es für den anderen Menschen passt und für uns auch.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Vertraut sein

Wem kann ich vertrauen? Von dieser Frage hängt im Leben aller Menschen viel ab. Die gesamte Werbung ist auf Vertrauen aufgebaut und auch unser persönliches Werben um andere Menschen, die uns nahe sind oder uns näher kommen sollen. Oft bleibt uns Menschen nichts anderes übrig, als zu vertrauen, denn Vertrauen schafft zumindest Hoffnung.

Es gibt Momente, die das Vertrauen rechtfertigen, aber rechtsverbindlich wird es dadurch nicht. Vertrauen beruht nicht auf Anspruch, sondern auf Gewährung und setzt darauf, dass derjenige, der Vertrauen begehrt, souverän im Interesse des Vertrauenden handelt. Er muss großzügig, aufklärend und verantwortungsbewusst damit umgehen können.

Trotz des sorgsamen Umgangs mit gewährtem Vertrauen, muss der Vertrauensnehmer einkalkulieren, dass das in ihn gesetzte Vertrauen objektiv nicht gerechtfertigt war. Dann muss er nach Lösungen suchen, um dem Vertrauenden Genugtuung ggf. Kompensation und Ersatz zu verschaffen.

Was in wirtschaftlichen Funktionszusammenhängen Erfolg haben mag, scheitert meist in persönlichen Beziehungen. Eine gestörte Vertrautheit, die auf Verabredungen beruht, ist nicht kompensierbar. Eine letztgültige Vertraulichkeit zwischen Menschen scheitert schon an ihrer Behauptung. Nähe beruht auf Souveränität und Achtsamkeit. Durch Nähe wird das Maß an Fremdheit bestimmt. Je detaillierter diese erarbeitet wird, desto geringer wird die Fremdheit und rechtfertigt Vertrauen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zimperlich

Ältere Menschen erinnern sich sicher noch an die Ermahnung des Kindes: „Sei doch nicht so zimperlich!“ Dieser Ausdruck scheint gänzlich aus unserem Wortschatz verschwunden zu sein. Aber, wenn man sich erinnert, weiß man doch noch ganz genau, was damit gemeint ist. Das so angesprochene Kind sollte mit dem Jammern und Klagen aufhören und den augenblicklichen Schmerz oder Kummer überwinden. Es half oft, zwar nicht deshalb, weil damit der Schmerz oder der Kummer weg waren, sondern weil das angesprochene Kind nicht zimperlich, also wehleidig sein wollte.

Nach einer früher weit verbreiteten Ansicht galt, dass man Sorge, Kummer und Schmerz nicht öffentlich zeigt, eigene Dinge für sich behält oder in der Familie belässt und Haltung bewahrte. Mit gutem Grund hat sich die Gesellschaft hier geöffnet und gestattet es dem Menschen, seine Gefühle vor anderen auszubreiten.

Aber, und dies sollte hier bedacht werden, wäre es vielleicht ganz gut, wenn nicht jeder seinen Sorgen, seinem Kummer und seinem Schmerz einen besonderen Stellenwert beimessen würde, sondern erkennt, dass es allen Menschen so geht oder so gehen könnte. Wenn wir auf Krisen schauen, dann können diese sehr persönlich sein, aber auch alle Menschen betreffen.

Betroffenheit ist ein persönliches Erlebnis, aber auch ein gemeinschaftliches. Wir können uns im Kummer über unsere Situation verlieren oder uns einen Ruck geben und dabei selbst ermahnen: „Sei doch nicht so zimperlich!“ Damit wird das Problem sicher nicht beseitigt, aber wir haben ein weiteres Werkzeug, mit diesem fachmännisch und nicht nur emotional umzugehen.

Eine Gesellschaft, die aus Menschen besteht, die sich ermahnen, nicht so zimperlich zu sein, ergreift nach jeder Krise die Initiative, trocknet ihre Tränen, wagt wieder ein Lächeln und macht weiter. Passt die Ermahnung also heute noch? Sicher.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Kontaktbereichsbeamter

Wer erinnert sich nicht gern, zuweilen auch etwas wehmütig, an unsere Kontaktbereichsbeamten. Sie hatten ihr Revier, welches sie Tag für Tag abliefen, oft stehen blieben, in Ruhe Straßen, Höfe und Häuserfronten musterten, dabei nicht abgeneigt waren, Passanten Auskunft zu geben oder mit interessierten Bürgern zu sprechen. Es gab emotionale, sogar herzliche Begegnungen. Die Kontaktbereichsbeamten waren den Menschen täglich gegenwärtig. Dann fehlten sie eines Tages plötzlich. Ausgemustert. Sie wurden als überflüssig angesehen, als gestrig und sie wurden mit Spitzeln, Blockwarten und mit einer Art Hausmeister verglichen.

Da sie keine spezifischen Aufgaben hatten, wie zum Beispiel falsch parkende Autos aufzuschreiben, Delikte aufzuklären oder den Verkehr zu regeln, schienen sie sich als überflüssig, zudem kostenträchtig und damit nutzlos zu erweisen. Weit gefehlt. Aus meiner Sicht erfüllten sie die wichtigste Funktion auf der Straße, die eine Gemeinde und ein Staat leisten kann: Sie schafften Vertrauen. Sie schafften Vertrauen, nicht gegenüber einer imaginären Obrigkeit, sondern unter den Bürgern selbst. Ein solches Vertrauen gewährleistet keine Präsenz von Polizeibeamten in geschlossenen Fahrzeugen, die vielleicht zwei Mal am Tage, in einer Straße patrouillieren.

Sie können so nur das Offensichtliche wahrnehmen, erfahren aber nichts über ihren kurzen visuellen Eindruck hinaus. Mit dem Schwinden des Kontaktes zwischen Polizeibeamten und Bürgern werden auch Konflikte geschaffen, weil man sie persönlich nicht mehr kennt. Aufgrund der mangelnden Erfahrung und des fehlenden persönlichen Umgangs ist es mehr als verständlich – so bedauerlich dies auch ist – dass Polizeibeamten zunehmend nur noch in ihrer obrigkeitsstaatlichen Funktion wahrgenommen werden.

Dadurch schwinden Hemmungen sich mit ihnen als Gegner auseinanderzusetzen. Auch ich kann mich nicht erinnern, dass ich in den letzten Jahren jemals bewusst mit einem Polizeibeamten ein Wort gewechselt hätte. Selbst die vielen Polizeibeamten, die vor öffentlichen und sonstigen gefährdeten Einrichtungen stehen, sind in das Geschehen außerhalb ihres Auftrages kaum eingebunden. Sie sind Statisten im Bereich öffentlicher Wahrnehmung.

Ich gehe allerdings davon aus, dass gerade im Interesse einer Konfliktvermeidung nicht nur die Bürger, sondern auch die Polizeibeamten ein größeres Interesse daran haben könnten, einander näher zu sein, mehr voneinander zu erfahren und sich gut miteinander aufgehoben zu wissen. Fazit: Ich plädiere für eine Wiederbelebung der segensreichen Tätigkeit der Kontaktbereichsbeamten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Partizipation

Im Zuge der Inhaltsfindung für den künftigen Sinn des Humboldt Forums im Berliner Schloss schlug ich vor, dieses zu einer Begegnungsstätte der Bürger auszugestalten, mit dem Ziel, einer in größerer Runde aktuelle Themen zu behandeln, dabei auch Vorschläge für unser Zusammenleben zu erarbeiten und diese dann in einer Art Contrat Social zu verabschieden. Ich stieß auf Zustimmung, unter anderem durch den früheren Umweltminister und Afrika-Beauftragten Klaus Töpfer, aber auch auf Skepsis und Ablehnung aus der Kultur- und Stadtpolitik. Die Ablehnung war leicht durchschaubar.

Man wollte das Humboldt-Forum künftig zu Museumszwecken nutzen und wollte darin auch ein partizipatives, weil aufklärerisches Moment sehen. Der Museumsbesucher würde sich mit den Kulturen der Welt auf eindringlichste Art und Weise durch den Besuch von Ausstellungen, Gesprächen und sonstigen Veranstaltungen auseinandersetzen.

Dass dies sehr begrüßenswert ist, will ich überhaupt nicht in Frage stellen. Diese Argumentation verkennt allerdings völlig die Notwendigkeit, dass zur Sicherung unserer Kultur und unserer Demokratie eine Bürgerbeteiligung außerhalb der Wahlen unabdingbar ist. Wir sehen leidvoll, dass Themen, wie Migration, Heimat, städtische Prioritäten, kulturelle Anliegen, Klimaschutz, Gesundheit und digitale Vernetzung fast ausschließlich in Fachkreisen und in politischen Gremien diskutiert werden, aber nicht in Bürgerformaten, wie zum Beispiel Bürgerparlamenten oder Bürgerversammlungen, in denen durch Selbstermächtigung auch diejenigen Bürger zu Wort kommen, deren Rechte meist nur hypothetisch bestehen oder sich in Fragerechten erschöpfen. Meinungsumfragen können zudem die Möglichkeiten wirklicher Bürgerbeteiligungen nicht ersetzen.

Man muss diesen Partizipationsmodellen noch nicht einmal normative Kraft beiordnen, um die Legitimität der daraus gewonnenen Ergebnisse anzuerkennen. Ich nehme wahr, dass mangels geeigneter Alternative sich solche Bürgerforen leider auf die Straße verlagern und als abschreckende Beispiele für bürgerliche Partizipation herhalten müssen. Aber gerade darin, dass dies geschieht, liegt das vorstehend von mir beschriebene Versäumnis unserer Gesellschaft.

Die Menschen wollen ihren Gedanken einen Ausdruck geben und finden dafür keinen anderen Ort mehr, als die Straße. Die Straße ist indes völlig ungeeignet ein Bürgerforum zu bieten. Ein kontinuierlicher Prozess der Gestaltung findet dort nicht statt, sondern das eigentlich Beredenswerte erschöpft sich in Demonstrationen und emotional vorgetragener Meinungen, die medial aufgeheizt die Politiker zum Handeln zwingen sollen. Diese reagieren mit Betroffenheit, gelegentlich Verständnis für diese Meinungen und schließlich bei einem Übermaß an Wahrnehmung vermeintlicher Rechte mit Gewalt.

So kann aber Partizipation nicht gelingen, weder in einer Meinungsdiktatur, noch in politischer Besserwisserei. Zudem besteht die Gefahr, die wir durchaus erkennen, dass Aufwiegler, Spinner und Opportunisten sämtlicher Couleur dieses Defizit ausnutzen, um Klientel für Zwecke zu mobilisieren, die überhaupt nichts mit konstruktiver und verantwortungsbewusster Partizipation zu tun haben.

Das Schloss und dabei das Humboldt-Forum auf dem Gelände des abgerissenen Palastes der Republik wäre ein idealer Ort gewesen und könnte es vielleicht in der Zukunft doch noch sein, Bürgerbeteiligungen zu ermöglichen, die weitläufig in unserer Welt schon in Städten und Landkommunen funktioniert haben. Die menschliche Gemeinschaft und dies nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Bereich ist unverzichtbar dafür, dass wir die Welt friedfertig, fortschrittlich und lebenswert erhalten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gewalt

Neunjähriges Mädchen von Mitschüler angegriffen, Prellungen, Gehirnerschütterung und Zerrungen im Rippenbereich. Achtjähriger hinterrücks niedergeschlagen von gleichaltrigem Mitschüler, eine Gehirnerschütterung hat dies zur Folge, neunjähriges Mädchen von Mitschülerin mit einer Schere bedroht unter Ankündigung, sie niederzustechen. Dies ist eine kleine Auswahl alltäglicher Verletzungshandlungen, wie sie sich in Grundschulen abspielen.

Die Gewalt setzt im Bereich der Kinder früh an und steigert sich im Zuge der jugendlichen Entwicklungsstufen. Schubsen, Prügeln und dabei auch verübte Gemeinheiten sind an sich nichts Unbekanntes bei Kindern. Dennoch hat sich der Maßstab verändert. Die Veränderung drückt sich dadurch aus, dass es sich nicht mehr nur um ein Kräftemessen handelt, sondern um grundlose Aggressionen, die meist heimtückisch auf ein zufälliges Opfer zielen.

Kein Kind bleibt heute an Schulen von den Möglichkeiten der Verletzungshandlungen verschont. Es gibt Lehrer, die führen darüber Aufzeichnungen, andere bestellen Eltern ein, um sich über das Verhalten der Kinder zu besprechen und schließlich gibt es vereinzelt Versetzungsmaßnahmen. Die Gründe für die Aggressionen werden damit nicht aufgedeckt und zuweilen werden sogar Eltern zu Mittätern.

So wurde im oben genannten Beispiel des neunjährigen mit einer Schere bedrohten Mädchens, dieses von der Mutter der Angreiferin ihrerseits mit den Worten bedroht, dass sie sie töten werde, wenn sie ihre Tochter nochmals bei der Lehrerin verpetze. Manche Eltern streiten die Aggressivität ihrer Kind ab und bekräftigen Beschuldigungen der Täter, dass das andere Kind angefangen habe und sich das eigene Kind nur gewehrt hätte.

Viele Erzieher und Lehrer verhalten sich ratlos, wiegeln oft ab und hoffen auf eine allgemeine Beruhigung. Das ist aber ein Irrtum, dass dies geschehe, denn die nicht geklärten Aggressionen hinterlassen nicht nur psychische Spuren bei den Opfern, sondern fördern sogar systemische Verhaltensweisen, bei denen dann gewalttätige Vorgänge sich als normal und abwendbar in Schulen erweisen. Deshalb ist es unumgänglich und wichtig, nicht nachzulassen in der Aufklärung der Kinder, in den Klassen, auf den Schulhöfen. Deshalb ist es wichtig, Regeln durchzusetzen und dadurch den Kinder eine Orientierung zu geben.

Deshalb ist es schließlich wichtig, Verantwortung für das eigene Verhalten und Empathie für andere frühzeitig zu lehren und zu vermitteln, um einer selbst sich erzeugenden Gewaltspirale bereits bei den Kindern den Schwung zu nehmen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schlagen und singen

Der eine ist Boxfan, der andere Opernfan. Der Boxfan hat, soweit er dies organisieren und sich auch leisten konnte, keinen wesentlichen Boxkampf der letzten fünf Jahrzehnte ausgelassen. Von dem Opernfan ist zu berichten, dass er im etwa im gleichen Zeitraum sämtliche gängigen Opern und diese sogar weltweit angesehen hat. Beide haben Archive ihrer Leidenschaften an­gelegt.

In Gesprächen habe ich versucht herauszufinden, wie sie ihre Zuwendungen erlebt haben, welche Perspektiven sich daraus ergeben und was sie verbindet. Auf eine mir nachvollziehbare Art und Weise sind Singen und Schlagen einander verwandt. Auch wenn der eine kein Boxer und der andere kein Sänger ist, so haben sie sich doch Stellvertreter geschaffen, die rational und emotional das verkörpern, was sie selbst schon immer gewesen sind, aber aufgrund der Umstände objektiver und subjektiver Art nie sein konnten.

Dagegen mögen der soziale Hintergrund, die berufliche Stärke, die sie beweisen mussten und ihre eigenen Konstitutionen bzw. Fähigkeiten zu boxen oder zu singen, keine entscheidende Rolle gespielt haben. Aber gerade deshalb sind sie in dieser bei einem Besuch einer Veranstaltung und ihrer Vor- und Nachbereitung vorgenommenen Transformation in die Stellvertreter authentisch, möglicherweise viel wahrer als in der alltäglichen Verkleidung.

Was sie sich durch die Identifikation schaffen, entlastet sie von vielen alltäglichen Sorgen und Nöten. Es gibt ihnen die Sicherheit, sie selbst und ein anderer Mensch zu sein, der an einem Abend zu zeigen vermag, was alles noch in ihm steckt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schleier

Zuweilen habe ich das Gefühl, dass über meiner Wahrnehmung ein Schleier liege, den ich nicht anheben, geschweige denn wegziehen kann. Ich vermute, dass der Schleier eine Erkenntnis verhüllt, die weder logisch, noch emotional argumentativ oder wissenschaftlich zu erschließen ist. Das verborgene Etwas muss aber etwas von uns sein, unsere Natur, die Einbildungen schafft, uns inspiriert und somit etwas Mächtiges darstellt, das wir dem Göttlichen zuweisen, aber damit nicht hinreichend beschreiben.

Mit dem umfassenden Alles oder Nichts benennen wir Aspekte der Wirkung, wozu uns das Ungeheure in die Demut vor seiner Unerreichbarkeit zwingt. In Ahnung dessen, was der Schleier verhüllt, aber nicht bereit ist, freizugeben, wie können wir glauben, dass irgendeine unserer Wahrnehmungen und Beurteilungen mehr ist, als das Bemühen, uns vor der Last der großen Verantwortung für alles zu drücken.

Durch erprobte Konventionen, Rituale und sonstiges Regelwerk versuchen wir, uns selbst und auch die anderen von der Gegenwärtigkeit unserer Unwissenheit abzulenken, weil es uns derzeit noch nicht gelingt, den Schleier zu lüften.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Märchen

Mit der Ruck – Stiftung des Aufbruchs will ich Eltern auf die Bildungsinteressen ihrer Kinder aufmerksam machen. Dies geschieht dadurch, dass Kindern von Geburt an auch die Welt der Phantasie durch die Eltern erzählend nahegebracht wird. Kinder dürsten nach sinnlichen Erfahrungen. Sie sind in der Lage, das, was sie hören, sehen und begreifen, in ihrer Phantasie abzulegen, mit weiteren Eindrücken aus ihrem Alltag zu vergleichen und lebenslang Lehren daraus zu ziehen.

Wir müssen bedenken, dass Architekten und Maler, die Kristallpaläste entwarfen und Wasserstädte visionierten, später Begründer des Bauhauses wurden. Erzählen von Geschichten von Anfang an bedeutet also für zuhörende Kinder nicht nur die Erweiterung ihres Sprachschatzes, sondern es werden ihnen auch Maßstäbe zur Auswahl besserer Entscheidungen geboten.

Gut erzählte Märchen müssen nicht unbedingt das Phantasieprodukt erwachsener Menschen sein, sondern sie können sich auch aus der erzählenden Kommunikation mit dem Kind entwickeln. Wenn ich meinen Kindern wunschgemäß immer wieder das gleiche Märchen erzählte, haben sie mich an jedes vergessene Detail der Geschichten erinnert, so dass ich mich schließlich dazu entschloss, diese aufzuschreiben.

Wenn ich heute Lesungen aus Kinderbüchern bestreite, so gewinne ich aus der Erwartungshaltung des Publikums die gleiche gespannte Aufmerksamkeit, die mir meine Kinder seinerzeit haben zuteil werden lassen. Dies zeigt mir die Bedeutung, die jedem Märchen innewohnt. Als ich vor längerer Zeit vom polnisch-tschechischen Freundschaftsweg kommend die Schlucht zur Spindlermühle hinabkletterte, hatte ich das Empfinden, wenn jetzt Rübezahl aus dem Wald hervortrete, jedes Märchen auf einen Schlag wahr werden würde. Das war ein beglückender Moment und so nahe an der Wirklichkeit ,oder?

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Selbstvergewisserung

Seitdem der Mensch bei sich ein Bewusstsein festgestellt hat, versucht er herauszufinden, was nicht nur die Welt, sondern ihn auch selbst persönlich zusammenhält. Dabei orientiert sich der Mensch in der Regel am Offensichtlichen und verschweigt zum Selbstschutz seiner Persönlichkeit, dass er eigentlich nichts weiß. Wir denken, meinen, fühlen und handeln.

Das Bewusste und das Unbewusste unseres Stammes, geschichtliche Erfahrungen und sonstige Umstände von Zeit und Ort unserer Verwirklichung sind uns gegenwärtig und damit Maßstab unserer Erkenntnis. Von Selbst- und Fremdbestimmtheit ist die Rede, von DNA und Umweltfaktoren, aber zunehmend tun sich auch Einflüsse auf, die jeder kognitiven Wahrnehmung widersprechen.

Wie jedes Lebewesen ist auch der Mensch ein biologisches Gesamtkunstwerk, dass freundliche und feindliche Mikroben miteinschließt. Wir sind deren Wirt und sie unterstützen uns bei der Bewältigung des Lebens oder verhindern ein bestimmtes Handeln, wenn sie damit nicht einverstanden sind. Wir sind in einem steten symbiotischen Austausch mit unseren Mikroben, und zwar nicht nur im Darm, sondern in jedem Bereich unseres menschlichen Körpers. Ohne unsere Mikroben geht nichts, könnten wir uns weder ernähren, noch denken.

Es ist daher naheliegend, nicht nur vom Einfluss dieser Mikroben zu reden, sondern auch von deren Bestimmtheit, wenn es um die Verwirklichung unserer Aufgaben geht. Die DNA unserer Mikroben haben dabei einen starken, ggf. auch bestimmenden Einfluss und unterscheiden dabei nicht nur zwischen sympathisch und unsympathisch, sondern gestalten unser Leben nach ihren Anforderungen mit. Dies gilt auch bei der Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Menschen und ist eine Frage unserer Souveränität, die Entscheidungskompetenz dort zu übernehmen, wo Mikroben ihre Zuständigkeit behaupten. Erst dann, wenn wir Mikroben und Viren als Teil unseres Lebensprozesses anerkennen, sind wir in der Lage, Einfluss auf Bereiche zu nehmen, in denen pathogene Mikroben versuchen, nicht nur unseren Körper, sondern unsere Gesellschaft zu attackieren und ggf. zu zerstören.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski