Archiv der Kategorie: Gesellschaft

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen gesellschaftsrelevanten Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Vorbei

Mephistopheles lässt sich bei Goethe´s Faust so vernehmen: „Da ist´s vorbei!“ Was ist daraus zu lesen? „Es ist so gut, als wäre es nicht gewesen,…“

In fast allen mir bekannten Nachrufen auf verstorbene Menschen wird wortgewaltig versichert, dass man den Verblichenen immer in ehrender Erinnerung behalten würde, ihn nie vergessen und seine Leistungen auf Dauer gewürdigt bleiben würden. Und was geschieht dann wirklich? In der Regel dann: nichts, vorbei! Mag sein, dass eine Erinnerungstafel, der Grabstein, schriftliche Vermächtnisse oder auch Erbstreitigkeiten noch eine Zeit lang die Erinnerung an den Verstorbenen wachhalten, aber vom Menschen selbst bleibt nichts. Es ist vorbei. Warum mag das so sein?

Möglicherweise deshalb, weil Platz geschaffen werden muss für weitere Menschen mit ihren Beziehungen, Gedanken, Ansprüchen und Erfahrungen. Natürlich bleibt etwas vom Verstorbenen in dieser Welt, aber jede kommende Generation muss sich wieder befreien von der Elterngeneration. Dabei ist die Ahnung von der eigenen Sterblichkeit in dem Bemühen zu sehen, Verstorbene nicht abzuwerten, aber den Tod durch das Behaupten eines Erinnerungsversprechens zu überwinden. Dies wird aufgrund eigenen Interesses aber meist nicht eingehalten. So ist es also vorbei mit dem Leben eines Menschen, aber auch mit allem, was im Laufe des Lebens eines Menschen ohnehin sterblich ist. Dies gilt für Freundschaften, Ehen und viele Aktivitäten eines Menschen gleichermaßen. Aus dem Vorbei entsteht das Neue. Auch es ist von Anfang an bereits vorbei, irgendwann.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Lehrer-Lease

Unter „Lehrer-Lease“ ist eine Beschäftigungsagentur für Lehrer zu verstehen, bei der junge, engagierte Lehrer mit überdurchschnittlichem Examen beschäftigt werden sollen. Diese werden je nach Bedarf Schulen zur Verfügung gestellt, und zwar sowohl um längerfristige Unterrichtsstrategien realisieren zu können, als auch um Unterrichtsverkürzungen oder gar deren Ausfall zu vermeiden. Es sollen zudem Schulen von Personalaufgaben entlastet werden.

Diese Überlegungen tragen den PISA-Studien Rechnung, wonach Deutschland im schulischen Bereich erheblich hinter den Erwartungen der Öffentlichkeit zurückbleibt. Politischer Wille zur nachhaltigen Verbesserung der Situation ist zwar teilweise zu erkennen, doch von einer grundlegenden Reform unseres Bildungssystems sind wir weit entfernt und stets scheinen die Haushaltslagen der Länder zum Sparen zu zwingen.

Um der Bildungsverpflichtung in Schulen gerecht zu werden, soll eine Beschäftigungsagentur für Lehrer dort wirksam sein, wo bereits heute eine Schnittstelle zwischen öffentlicher Schulversorgung und privaten Schulen sichtbar wird. Lehrer-Lease stärkt die Kompetenz öffentlicher Bildungseinrichtungen und bildet dabei nicht nur einen Rechtsformträgerwechsel zwischen öffentlichen und privaten Schulen ab, sondern schafft dabei etwas Neues, ein an Effektivität und Lernzielen inhaltlich organisatorisch und wirtschaftlich orientiertes neues Schulgebilde.

Durch Outsourcing und Verantwortungsteilung soll sozusagen ein neuer Typ einer zukunftsorientierten Ausbildungsstätte geschaffen werden. Ziel ist es dabei, bestehende Bildungsangebote an die Herausforderungen einer komplexen Lebens- und Arbeitswelt anzupassen, sowohl durch den strukturellen Umbau, als auch die Erweiterung vorhandener Bildungseinrichtungen, die Förderung der kulturellen Kommunikation, eines grenzüberschreitenden Austausches im Bildungsbereich und dies auf allen Sektoren einschließlich KI und Internet.

Um dies zu gewährleisten, sind speziell ausgebildete Lehrer erforderlich, die aber bisher kaum vorhanden oder noch nicht einsetzbar sind, wo sie benötigt werden. Es ist daher erforderlich, junge Lehrer, die ein ausgezeichnetes oder gutes Examen gemacht haben, so weiter zu qualifizieren, dass sie neue überzeugende Ideen konzipieren und realisieren können. Sie müssen sich sowohl fachlich, als auch methodisch fortbilden und über hohe kommunikative und soziale Kompetenz verfügen. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auch auf die Vertiefung der Kenntnisse in der Jugendpsychologie zu setzen sein. Lehrer sollten in der Lage sein, die unter den jeweiligen Lern- und Arbeitsbedingungen erforderlichen Sozialformen zu durchschauen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Sprachvermögen

Vergewissern wir Menschen uns des Seins, indem wir sprechen? Ist es der Klang unserer Stimme, die uns dabei existenzielle Sicherheit vermittelt oder ist es die Aussage selbst, die unter Abstimmung unserer Gefühle und Gedanken unser Ich bestätigt? Oder ist es möglicherweise erst der Adressat unserer Aussage, der wesentlich zur Vergewisserung unseres Eigenseins beiträgt?

Sprache ist Verlautbarung, bildet aber auch geschrieben oder nur gedacht, den Nukleus unserer Existenz. Stellt sich also die Frage, ob der Mensch durch die Sprache erst geschaffen wird, allein durch die Sprache seine Handlungsfähigkeit erreicht und im Zuge einer Entsprachlichung sogar aufhören würde zu existieren? Dabei sind die vielen inzwischen vorhandenen medialen Formate als Ursache dieser Entsprachlichung zu benennen. TikTok, Instagram und Facebook, alle durch Proms, durch Menschen belebten Formate haben eine menschenähnliche Sprach- und Darstellungsfähigkeit erlangt, die nicht nur die Singularität des Menschen in Frage stellen könnte, sondern auch den Sinn der menschlichen Sprache an sich.

Derzeit ist es noch nicht gewagt zu behaupten, die natürliche Entwicklung seiner Sprechfähigkeit habe den Menschen zu etwas Besonderem werden lassen. In Zukunft könnte auch eine KI aufgrund Informationsfähigkeit der menschlichen Sprache bestimmen, was Menschsein ist. So gerät also durcheinander und ist schwer zu erkennen, was dabei Henne oder Ei ist.

Sprache ist mehr als nur Wert, Sprache ist die Qualität einer prozessualen Errungenschaft an menschlicher Erkenntnis. Um diese zu tradieren, wird der Mensch zwar auch künftig seine Befehle an maschinelle Wortmaschinen erteilen, aber in Nuancen seines Sprachvermögens weiterhin Geheimnisse bewahren und sich selbst sprechend seiner Existenz versichern, dies selbst dann, wenn er öffentlich kaum mehr im Stimmengewirr des Internets vernehmbar sein sollte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Streit

Konflikte, Auseinandersetzungen und Streit sind gängige Erfahrungen von Menschen, welche durch ihre Ansprüche, Interessen, verfestigte Ansichten, Sorgen und Meinungsverschiedenheiten befördert und gespeist werden. Streit wird zwar einerseits als Belastung und Stress, andererseits aber auch als Befreiung empfunden. Wie ist es also um die Produktivkräfte des Streits bestellt?

Streit kann zuweilen in der Lage sein, neue Sichtweisen zu öffnen, Kräfte energetisch freizusetzen und ist daher unverzichtbar für persönliche menschliche Klärungsprozesse und auch das Gelingen unserer Gesellschaft.

Um dies im allgemeinen Kontext zu verdeutlichen, wähle ich das einschneidendste gesellschaftliche Streitthema, und zwar den Krieg. Gäbe es keine Konflikte mehr unter den Staaten und damit auch keine Möglichkeit des Krieges mehr, erschiene dies zunächst als sehr verlockend, könnte aber auch weltweit erheblich zu Einschränkungen von Wirtschaftsleistungen und damit zur Reduzierung des Bruttosozialprodukts von Staaten beitragen. Wir wissen, dass die Waffen, die für kriegerische Auseinandersetzungen benötigt werden, angeblich einen erheblichen und teilweise unverzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung leisten. So kann man dem Streit auch einen wirtschaftlich produktiven Vorteil – zumindest auf Zeit – beimessen, wie zuweilen behauptet wird. Zudem weisen Streitereien oft auch einen kathartischen Effekt auf, der sich in wohltuender Erschöpfung frei nach Hamlet zu äußern vermag: „When they all are crying, dying and dead don’t you like it like that.“ So wohnt dem Streit nicht nur ein sich selbst erschöpfendes Moment in Erwartung seines Endes inne, sondern enthält auch reinigende Tatbestände, schärft die Sinne, stärkt die Leistungsfähigkeit und sprengt auch die Grenzen des emotional Möglichen.

Das ist das Eine, das Andere ist natürlich die zerstörerische Kraft des Streits, der psychische und physische Verwüstungen hervorzurufen und zu hinterlassen vermag. Da jedem Menschen ein Lebensversprechen zu seiner körperlichen Unversehrtheit bei der Geburt zuteil wurde, ist jeder Streit, der die Menschenwürde infrage stellt, in keiner Weise, also auch nicht durch wirtschaftliche und angebliche zivilisatorische Fortschritte zu rechtfertigen. Niemals dürfen wir die Verantwortlichkeit für unser Handeln mit der Behauptung des Angegriffenseins in Frage stellen.

Als Mitwirkender an einem Streit sind wir immer Opfer und Täter zugleich.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zwischenräume

Durch dazwischengehen, dazwischenhauen, dazwischentreten und dazwischenreden, schaffen sich Menschen zuweilen Platz für ihre Ansichten, Meinungen, Gedanken und vielleicht auch Gefühle.

Durch das Dazwischensein, machen sie sich indes abhängig von den Begrenzungen und müssen ihre Dazugehörigkeit im Zwischenraum belegen. Ohne die Begrenzungen sind Zwischenräume nicht möglich. Es sind die Zwischenrufe, die sich Platz verschaffen zwischen den zunächst vermuteten Eindeutigkeiten. Indem sie aber anschwellen, vermögen sie, die Begrenzungen zu sprengen und selbst den Platz zu besetzen, der zunächst als Begrenzung des Zwischenraums erschien. Wenn einige Agitatoren verleitet sein mögen, durch Zwischenrufe zu spalten, können andere Menschen durch Dazwischengehen und Dazwischentreten befriedend und befreiend wirken.

Wer Zwischenräume öffnet, kann provozieren, irritieren oder ermöglichen. Wer sich dazwischen begibt, ist versucht, Räume für andere Ansichten und Meinungen zu öffnen, was provozierend, irritierend oder beängstigend sein kann. Wer dies aber tut, übernimmt Verantwortung für sein „Dazwischengehen“, das Veränderungen schafft, welche auf die Ursache des Eingreifens zurückwirkt und abermals Grenzen setzt. Es kann aber immer wieder etwas dazwischenkommen. Darauf müssen wir uns einstellen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zusammenhalt – Bindung

In Gedichten, Liedern und Parolen versichern sich Menschen im privaten, öffentlichen und gesellschaftlichen Bereich des Zusammenhalts, der Bindung und der Unterstützung. Füreinander da zu sein, ist ein beliebter Aufruf und entspricht dem Anspruch durch wechselseitige Versicherungen, gemeinsam Herausforderungen des Lebens in der Zuneigung, Familie, Beruf und auch im öffentlichen Raum zu meistern, Probleme zu lösen, Angriffe abzuwehren und das Leben für alle Beteiligten sicherer und planbarer zu gestalten.

Treiber sind dabei Einsicht, Vernunft und Lebenswille. Inhaltlich wird dieser Anspruch durch einen Kodex, der ein verlässliches Maß an Orientierung im Handeln erlaubt, unterstützt. Sowohl im privaten, als auch im gesellschaftlichen Raum haben sich die Kriterien für Verhaltensweisen herausgebildet, die Menschen veranlassen, so zu sein und zu handeln, dass sie nicht nur mit den Erwartungen anderer Menschen korrespondieren, sondern sich dabei auch ihrer eigenen Integrität versichern können.

Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch muss die Verabredung verbindlich sein. Toleranzen innerhalb abgesteckter Erwartungshaltungen sind dabei zwar zuträglich, werden diese allerdings wesentlich überschritten, bleibt ein organisatorisches Eingreifen unvermeidlich, um den Zusammenhalt und die Bindung innerhalb eines gestellten Ordnungsrahmens weiter zu gewährleisten. Wie im persönlichen Bereich, ist dafür auch im gesellschaftlichen Bereich eine Resilienzstrategie, die stets eingreift, wenn der Toleranzrahmen überschritten wird, erforderlich. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die präventiv wirken, d. h. bereits sich anbahnende Störungen des Zusammenhalts und der Bindung begutachten, Lösungen anbieten und ggf. dafür sorgen, dass Verabredungen regelbasiert auch künftig eingehalten werden. 

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Blickwinkel

Stellen wir uns irgendeinen Gegenstand, auf den alle Blicke gerichtet sind, vor. Sehen wir alle dasselbe? Wenn es zum Beispiel ein Stein ist, sagen wir, es sei ein Stein und meinen das Gleiche, oder?

Bedenken wir, dass ein Gegenstand seine endgültige Einordnung erst im Gehirn des Betrachters erfährt, denn die Botschaft, welche der Stein bezüglich seiner Existenz sendet, erfährt seine Individualisierung erst in der Korrespondenz mit allen unseren individuellen, visuellen, kognitiven und emotionalen Sensoren. Es ist also logisch, dass jeder Mensch auf jeden Gegenstand seiner Betrachtung einen eigenen Blickwinkel hat, das Prüfverfahren routiniert, unterbewusst und blitzschnell erfolgt und sich in unserem Beispielfall darauf festlegt, dass es sich um einen Stein handele. Hier mag die Wahrnehmung noch keine besonders weitreichende Tragweite zu haben. Doch wie verhält es sich beim Betrachten und Beurteilen von Vorgängen, bei denen die Verabredung nicht so eindeutig erfolgen kann und Maßstäbe und Blickwinkel eine bedeutende und zuweilen entscheidende Rolle spielen?

Ist es da nicht so, dass wir auch hier sehen, was wir gewohnt sind zu sehen, und zwar auch dann, wenn wir wissen, dass Abweichungen von der Realität möglich sein könnten?

Wenn wir aber dann doch auf unsere Sichtweise bestehen und den Blickwinkel festlegen, machen wir dann nicht stets den Gegenstand unserer Betrachtung ausschließlich zur Eigenwahrnehmung unserer Gedanken und Gefühle? Kann das, was wir zu sehen glauben, nicht vielleicht auch eine Projektion dessen sein, was andere für uns verabredet haben? Alle Erfahrungen des Menschen sind einstudiert, beruhen auf Informationen, Training und Verabredung. Dafür sind Kompetenz, Sachverstand und Regeln erforderlich. Werden diese geschreddert durch behauptete Eindeutigkeiten der Betrachtung und Beurteilung, ist zu fragen, ob dieser Blickwinkel, den wir zum Maßstab unseres Sehens machen, nicht nur eine opportunistische Verarbeitung des Betrachtungsgegenstandes zulässt und diesen so verfälscht?

Wenn nicht mehr wichtig ist, was wir sehen, sondern behauptet wird, was wir glauben zu sehen sei zutreffend, entscheiden wir uns für einen verfremdeten Blickwinkel, der auf jegliche Wahrhaftigkeit verzichtet. Wenn wir uns darauf einlassen, beschränken wir uns auf eine uns aufoktroyierte Behauptung der Erkenntnis und verraten die Wirklichkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schmerz

„Schmerz, wo ist dein Stachel?“ In Abwandlung von Korinther 15, Vers 55 meine ich die lebzeitige Wahrnehmung des Schmerzes und nicht des Todes in Gefühlen und Gedanken.

Schmerzauslösend ist oft der Körper, der vereinzelt oder umfassend über die Nervenbahnen Impulse auslöst. Mit eingeschlossen sein sollten die seelischen Schmerzen, obwohl ein Organ, welches als Seele bezeichnet werden könnte, im menschlichen Körper nicht verifizierbar ist. Meist körperliche, aber auch sich geistig und seelisch manifestierende Schmerzen beziehen sich auf Umstände, die bei einem Menschen Empfindungen auslösen, die keiner körperlichen Wahrnehmung mehr zuzuordnen sind, aber gleichwohl vielfältige Reaktionen bei ihm hervorrufen können.

Weltschmerz ist dabei ein weiteres Stichwort. Dieser umfasst alle Bereiche der persönlichen und kollektiven Verfasstheit, ungeklärter Erwartungen und Versagens. Weltschmerz ist ein Sammeltopf für viele nicht eindeutig zuordenbaren schmerzliche Zumutungen in der Beziehung zu anderen Menschen, bei ungeklärten Umständen im persönlichen Bereich und in der Gesellschaft insgesamt.

Welches Zeichen vermittelt uns aber dieser Schmerz und welchen Sinn birgt er? Schmerz hat eine Warnfunktion, die jeden einzelnen Menschen davor schützen soll, sich in der Ich-Verwirklichung so zu verausgaben, dass sein Körper einschließlich seiner Seele und seiner Gedanken Schäden davontragen. Nicht nur als Korrektiv für unsere Maßlosigkeit, sondern auch als Erinnerung an unsere eigene Verletzlichkeit sollte der Schmerz uns aber bei der Bewältigung von Aufgaben helfen und uns ermahnen, anderen nicht zuzufügen, was wir selbst nicht erleiden wollen.

Der präventive Gedanke des Schmerzes wird herausgefordert durch den dem Menschen innewohnenden Willen, die existenziellen Begrenzungen zu überwinden. Soweit dies aber zur Verrohung und Abstumpfung führen sollte, mahnt der Schmerz uns, Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten und uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Recht und Gerechtigkeit

Gewaltenteilung, Gesetz, Judiz und Rechtsbefolgungswille, dies alles sind Begrifflichkeiten, die ein geregeltes Zusammenleben von Menschen, Bürgern und Nationen unter Einsatz der von ihnen geschaffenen Einrichtungen ermöglichen sollen.

Erodiert diese Akzeptanz der Regeln und des allgemeinen Rechtsempfindens unter anderem deshalb, weil Regeln und Gesetze nicht mehr dem Rechtsempfinden des Einzelnen und seiner Gruppe entsprechen, zum Beispiel, weil sie wirklichkeitsfremd konstruiert erscheinen, hat das zunächst Unruhe wegen unbefriedigter Erwartungen, dann aber auch Missachtung, Auflehnung und schließlich Verweigerung zur Folge.

Da ein Regelwerk nicht zwangsläufig ein anderes zu ersetzen vermag, bildet sich so ein Legitimitätsdefizit des Verfahrens an sich heraus, dass alle damit in Berührung tre­tenden Institutionen, seien es der Gesetzgeber, die Regierung und schließlich auch die Justiz mit umfasst. In deutlicher Konsequenz dieses Auflösungsprozesses bricht nicht nur die Gewaltenteilung in sich zusammen, sondern jegliche Ordnung.

Des „Volkes Stimme“ ist allerdings ein viel­fältiger Chor, der auch dann nicht strukturiert und belastbar Neues aus den Versatzstücken des vorhandenen, aber gewesenen Seienden schaffen kann, son­dern in einem langen Prozess der Ermöglichung herausfinden muss, was konsensfähig sein könnte. Sollte dieser demokratische Prozess anstelle einer auch möglichen Autokratie gewählt werden, so müssen zunächst die Regeln für diesen Findungsprozess wieder unter Berücksich­tigung eines eher diffus gebildeten Rechtsempfindens fest­gelegt werden, um zu vermeiden, dass irgendjemand das Heft des Handelns an sich reißt und demokratiegefährdende selbstbezügliche Anordnungen erlässt. Denn selbst dann, wenn Widerstand gegen eine Bevormundung generell bestehen sollte, verführen Erschöpfung und Ratlosigkeit Menschen dazu, eine Führerschaft dem Chaos und einer befürchteten Anarchie vorzuziehen, dies eingedenk der menschlichen Ei­genschaften, Belastungen nur zu einem bestimmten Maße zu ertragen und lieber Bequemlich­keit und Vorteilsgewinnung zum Maßstab des eigenen Verhal­tens zu machen.

Justitia ist nicht blind, wie Statuen und Abbildungen behaupten, sondern achtet sehr darauf, welche Maßstäbe wir ihr für die Begutachtung von Rechtsfällen an die Hand geben.

Nicht die Umstände begrün­den das Recht und die Gerechtigkeit, sondern es sind wir selbst, deren Maß­stab eher unser Eigennutzen ist. Recht und Gerechtigkeit verlangen dagegen von uns, dass wir nicht nur unsere eigenen Interessen im Auge haben, sondern begreifen, dass Gewaltenteilung und das Bemühen um Gerechtigkeit, auf der Abwägung unserer Interessen mit denjenigen anderer Menschen be­ruhen. Wenn wir uns darauf einlassen sollten, besteht unser Vorteil darin, dass auch wir zu­wei­len Profiteure dieser Verlässlichkeit sein könnten und uns Gerechtigkeit widerfahre.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Identität

Von „Cogito, ergo sum“ bis „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ reicht die menschlichen Experimentierfreude, die eigene Existenz zu ergründen, herauszufinden, wer man denn eigentlich sei.

Und, gelingt es uns? Naheliegenderweise prüft sich der Mensch zunächst im Spiegel. Wer schaut da zurück und zudem seitenverkehrt? Kenne ich diese Person, ist sie mir vertraut? Als Spiegelbild möglicherweise, aber nicht so, wie die Erscheinung im Spiegel vorgibt. Bin ich das? Wenn ich versuche, mich zu begreifen, womit fange ich denn an? Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Sind es die Funktionen meines Körpers, die Gedanken und die Gefühle? Einer möglichen Momentaufnahme meiner Selbstwahrnehmung begegnet der Einwand, dass sämtliche Lebensstationen mich geformt hätten, und zwar nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und auch die Erwartungen an mich in der Zukunft.

Die Zeit ist nicht abzustreifen wie eine Schlangenhaut. Nur, wenn alles Ich-Sein in seiner gesamten Totalität in mir versammelt ist, könnte dies meine Identität absichern, wobei auch diejenigen Umstände nicht zu vernachlässigen sind, die außerhalb meiner Person liegen, die mich ebenfalls formen und mich in meinem Ich-Sein bestätigen. Wie verlässlich kann aber eine solche Bestätigung sein, wenn der Blick anderer auf mich möglicherweise verfälscht oder gar zu flüchtig ist? Anderen die Bestimmung meiner Identität zu überlassen, erscheint mir daher unvollkommen.

Wie aber schaffe ich es, meine Eigenbetrachtung als authentisch zu begreifen? Soweit ich mich nur um Konkretheit bemühen wollte, dürfte dies aussichtslos sein, denn nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Empfindungen sind fast stets opportunistisch.

Schon aus Gründen meines Selbstschutzes bestätigen sie die Muster meines eigenen Wunschkataloges. Je intensiver ich versuche, mich selbst zu interpretieren und so meine Identität zu klären, desto weiter scheine ich mich dadurch von mir selbst zu entfernen, darauf hoffend, dass meine Existenz grundsätzlich nicht auf einem Trugschluss beruht. Ich also nicht sei, wer ich bin oder vorgebe zu sein.  

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski