Archiv der Kategorie: Kultur

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen kulturellen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Zeitverschwendung

Wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, sind es wie Gummi gedehnte Podiumsveranstaltungen mit einem/einer selbstverliebten Moderator/in, die selbständig irgendwelche Einschätzungen abliefern und Fragen an ebenso selbstverliebte Teilnehmer stellen, die völlig unvorbereitet das darauf antworten, was ihnen dann gerade durch den Kopf segelt. Bei vier bis sechs Teilnehmern plus Moderator/in dauert die ganze Veranstaltung einschließlich Schlussstatements und Zusammenfassung unendlich lange. Die reine Zeitverschwendung.

Natürlich bleibt für Fragen kaum Zeit. „Keine Co-Referate“ wird vom Moderator/in angemahnt, auch wenn er/sie nicht daran denkt, diese Ermunterung ebenfalls zu beherzigen. Wo wir es eigentlich doch alle so eilig haben, ist diese Form der Zeitverschwendung ein erstaunliches gesellschaftliches Phänomen.

An jeder Supermarktkasse wird gedrängelt, was das Fließband hergibt, aber einem potentiell unbekannten Partygast vom Surfurlaub, Skifahren oder der Hüftoperation zu erzählen, scheint völlig in Ordnung zu gehen, selbst dann, wenn die Schilderungen sehr lange dauern. Reziprok ist das Verhalten ohnehin nicht. Denn in Ermangelung der Fähigkeit, über die Zeit anderer ebenso wirksam verfügen zu können, scheitert so mancher Gesprächspartner kläglich.

Zeitverschwendung ist ein Vermüllungsproblem. Es ist ein Machtkampf entbrannt, aber nicht um Inhalte, sondern um die Verfügbarkeit über die Zeit anderer. Dies drückt sich auch in unzähligen Einladungen zu Podiumsveranstaltungen, Vernissagen oder Gesprächskreisen aus. Die meisten dieser Einladungen sind versehen mit dem Aufruf schon vorsorglich Termine zu blockieren, erfolgen per E-Mail und wiederholen sich bis zum Ereignis fast täglich oder sogar stündlich.

So entkommt man der Verfügbarkeit über die Zeit durch andere kaum, und zwar auch nicht durch persönliche Verweigerung, wie man hofft. Wer nicht mitmacht, wird gestrichen. Das ist kein Triumpf der persönlichen Verweigerung, sondern eine Form der Abrechnung durch unsere interne Zeitverwaltung. Wer schmollt, muss sich nicht beklagen, dass er völlig isoliert von anderen seine Zeit verschwendet. Also lieber mitmachen und die Zeit zum Markte tragen, also wäre sie die eigene Haut.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schön leben Mensch

Der Alltag vieler Menschen ist so anstrengend, dass sie manchmal schier verzweifeln mögen. Es scheint oft, als ob die Menschen immer neue Schwierigkeiten erfinden müssten, um sich das Leben besonders schwer zu machen. Behinderungen und Einschränkungen ihrer Beweglichkeit erhalten Menschen fast täglich zu Hause, bei der Arbeit oder in Behörden. Überlieferte Sätze wie „Das haben wir noch nie gemacht“, unverständliche Fragebögen und Ablehnungen zeugen aber meist eher von Unsicherheit, Rechtfertigungsdruck und eigenem Überlebenswillen als von Durchtriebenheit und Gemeinheit. Menschen haben Angst vor vielem Fremden, bleiben aber menschlich, danken für den Vortritt durch eine Tür oder eine prompte Erledigung ihres Anliegens. Trotz aller Mühen, die sie verursachen, sind das Schönste am Leben die Menschen. Die Menschen mit ihren großen Potenzialen an Verständnis, Mitleidensbereitschaft und Freude an gemeinsamen Ereignissen.

Im Abgleich von Erfahrungen, Gespräche über Erlebnisse, Austausch über Reisen und Familie erleben sie durch die Feststellung von Gemeinsamkeiten ein großes Maß an Ruhe und sozialer Bindung. Der Mensch kann sich vereinzeln, seine Individualität betonen, sehnt sich aber doch nach der Gemeinschaft, die ihn erhält, ihm seine Besonderheit erst ermöglicht. Ohne Menschen gäbe es diese Welt, die wir so vielfältig erfahren dürfen, für uns nicht. Wenn wir vor die Türe treten, sind wir neugierig auf die Menschen, süchtig danach, von ihnen angenommen zu werden, und nach gemeinsamem Erleben. Das Schönste an dieser Welt sind daher wie zum Trotz die Menschen!

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Facebook

Als ich ein Kind war, wohnten wir in einer Kleinstadt. Während des Tages nach Kindergarten und Schule tobten wir auf der Straße herum, spielten Brennball, „Himmel und Hölle“, Verstecken oder Fangen. Wir konnten dies unbekümmert mit den Kindern aus der Nachbarschaft tun. Nach dem Mittagessen trafen wir uns auf der Straße. So war das damals. Am Abend öffneten sich die Fenster zur Straße, Kissen wurden auf die Fenstersimse gelegt und der „Herr des Hauses“ im Unterhemd und seine Frau schauten dem Treiben auf der Straße zu, unterhielten sich mit Nachbarn und grüßten auch unbekannte Menschen, soweit sie diese als freundlich empfanden, andere wurden misstrauisch beäugt. Ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, alle hatten einander im Blick, trafen sich, redeten miteinander oder auch hinter dem Rücken des anderen. Am Sonntag war Kirchgang angesagt. Jeder nahm aus seinem Schrank die fesche Bluse oder den Anzug, um damit herumzuspazieren und anderen zu zeigen, wer man war. Man war also jemand. Eine respektable Persönlichkeit, hielt dem Vergleich mit den Kleidern anderer stand, gehörte dazu.

Dann kam Fernsehen, die Straßen wurden uninteressant, die Geburtsraten gingen zurück und Menschen zogen sich mehr ins Privatleben zurück.

Hatten sich dadurch ihre Bedürfnisse verändert? Ich behaupte nein, überhaupt nicht. Sie sind weiterhin auf die Begegnungen mit anderen Menschen angewiesen, die Kommunikation, die uns Sicherheit im Leben verschafft, Anerkennung bietet und Vergleiche ermöglicht. Wir wollen doch alle dazu gehören, haben Angst, nicht wahrgenommen zu werden, wollen Spuren hinterlassen und unsere Möglichkeiten, Dinge zu erfahren, erweitern.

Und dann öffnet sich Facebook im Internet, erlaubt den Vorteil der reflektiven Kommunikation, ständige Präsenz, Austausch mit wem auch immer, aber auch eigenen Bekannten und Freunden. Wir können sie teilhaben lassen an unserem Leben, nehmen aber gleichwohl Einfluss auf das Darzustellende. Wir kennen das Sprichwort: Aus den Augen, aus dem Sinn. Jetzt bleibt der Augenmerk immer auf den Inhaber der Facebook-Seite geheftet, abrufbar, erneuerbar, erweiterungsfähig und selbstbestätigend. „Ich bin ich und ich bin da.“ In diesem Sinne sind wir alle massenhaft. Das Dorf, die Kleinstadt, die Straße, die Wohnung, alles hat sich in der Dimension einfach erweitert. Ansonsten ist alles so wie früher.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Weniger ist mehr

Wir leben in Zeiten des kulturellen Overkills. Nach der Show ist vor der Show. Wenn ich ins Konzert oder in die Oper gehe, ein Theaterstück besuche oder ein Museum durchstreife, meist, weiß ich schon am nächsten Tag nicht mehr genau, wo gewesen bin, was ich gesehen und gehört und habe, sondern der starke Eindruck verfliegt wie der Traum der letzten Nacht. Woran liegt das?

Wir werden unablässig verlockenden Angeboten ausgesetzt, die wir anstatt uns über sie zu freuen, abarbeiten in der Hoffnung, dass wir noch den Überblick behalten, selbstbestimmt auswählen dürfen, was uns passt oder nicht. So unsere Vorstellung. In Wirklichkeit aber werden wir getrieben von Verpflichtungen, die wir als kulturell begreifen, benötigen ständig die Selbstbestätigung in immer niedrigeren Frequenzen.

Wir haben keine Kapazitäten mehr, um das Erlebte langfristig zu speichern, bei Bedarf zu verarbeiten und mit anderen Erfahrungen abzugleichen. Oft hatte ich sehr gute Gespräche mit anderen Menschen. Wir versicherten uns bei der Trennung, unbedingt in Kontakt zu bleiben, gemeinsam Projekte zu verwirklichen und uns wieder zu treffen. Würde ich mich darauf verlassen, käme es wahrscheinlich zu keiner Zweit- oder Drittbegegnung, denn kaum haben wir das Treffen beendet, gibt es schon wieder neue Herausforderungen, die unsere gesamte Aufmerksamkeit erfordern. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Der Volksmund hat auch an dieser Stelle sicher Recht. Bedauerlicherweise trifft dies aber nicht nur für Begegnungen unter uns Menschen zu, sondern auch bei unseren Begegnungen mit der Kultur. Die Inflation von Angeboten wird zunehmen, aber wir haben die Chance zu lernen, uns selbst zu reduzieren, uns einzulassen auf das Wesentliche. Mein Vater hat den Satz geprägt: „Mensch, werde wesentlich.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Nachrichten

Informationen, Tatsachen und Nachrichten, all dies wurde bereits abgeschafft. Wie? Das glauben Sie nicht? Dann hören Sie doch einfach einmal bewusst in die „Nachrichtensendungen“ von Claus Kleber oder Marietta Slomka rein. Sie haben es da nicht etwa mit dem Trump-Propagandasender „Fox News“ zu tun, sondern um staatlich finanzierte Formate der Bürgerunterhaltung.

In den sogenannten Nachrichtensendungen auch des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens wird regelmäßig eine Nachricht bei ihrer Weitergabe durch den/die Sprecher(in) bewertet. Dies geschieht sprachlich, ironisch, abweisend oder in einem Zusammenhang, der den Inhalt der Aussage unglaubwürdig erscheinen lässt. Das Ganze wird begleitet durch eine Mimik, die scheinbar Objektivität signalisieren soll, aber gerade das Gegenteil ahnen lässt. Ich, der Nachrichtenverkünder bin der Nachricht weit überlegen, kann und darf bewerten, was jemand tut oder sagt. Und das hat durchaus Erfolg.

Emotional verführt kommt der Zuschauer oder Zuhörer kaum mehr auf den Gedanken, sich eine eigene Meinung zu bilden, sondern lässt auf sich wirken, was ihm vorgesetzt wird. Da es keine objektivierbaren Nachrichten mehr gibt, sondern Meinungen vorherrschend sind, entwickelt sich allmählich ein Raum der Beliebigkeit und Verantwortungslosigkeit. Dies zunächst vor allem in politischen Zusammenhängen. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis unsere Gesellschaft insgesamt von diesem Virus der Beliebigkeit infiziert wird. Jeder Fakt wird verhandelbar und bewertbar. Wie soll es dann noch möglich sein, Kinder strukturell entscheidungssicher auf das Leben vorzubereiten?

Wie sollen sie bei dem Vorbild, das wir inzwischen selbst abgeben, begreifen, dass es darauf ankommt, kritisch mit Mitteilungen aus dem sozialen Netz umzugehen, wenn „storytelling“ unterhaltsamer ist, als überprüfte Fakten? Durch Geschichtenerzählen verlieren wir das Vertrauen der Menschen in die Wirklichkeit. Misstrauen ist erst der Anfang, dann folgt Aggression und schließlich zerfällt unser gesamtes Weltbild in Spekulationen und Verschwörungsüberzeugungen. Wenn wir dies nicht wollen, müssen wir unsere Echoräume verlassen und uns darauf besinnen, überprüfbare Nachrichten neutral weiterzugeben, und zwar kurz, knapp und informativ.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

 

Interview

Was heißt das jetzt konkret? Der Interviewpartner redet dann über irgendetwas, das mit der Frage nur indirekt verbunden ist. Was wollen sie damit nun genau sagen? Auch jetzt scheint der Interviewpartner die Frage und insbesondere den Hinweis darauf, was hier genau sein soll, nicht verstanden zu haben.

Konkret und genau sind Ankerworte jedes Mediengesprächs ohne tatsächliche Erkenntnisnutzen. Was kann denn schon konkret und genau zum Ausdruck gebracht werden, wenn komplexe Antworten erforderlich sind oder gerade nicht konkret oder genau die Frage beantwortet werden kann. Soll der Interviewte dann bekennen, dass er konkret und genau nichts zu sagen hat, sondern es vorziehe, seine Antworten zu verallgemeinern?

Der Interviewte schwafelt, um sein Gesicht zu wahren und der Interviewer selbst behauptet seine Wichtigkeit durch angeblich klare Fragestellungen, wohlwissend, dass er die Antwort, die er hofft zu bekommen, nicht erhalten wird, wohlwissend, dass es ihm nur darum geht, sein Gegenüber in Bedrängnis zu bringen. Es ist also ein abgekartertes Spiel mit Worten ohne Erkenntnisgewinn, aber rollengerecht innerhalb eines beabsichtigten Formats.

Mit konkret und direkt ist es dabei allerdings nicht getan, sondern hart und unfair muss es dabei auch zugehen und je unhöflicher und unerbittlicher die Fragestellungen, umso schöner das Showdown. Wenn es um Wahrheit und Inhalte überhaupt nicht mehr geht, sondern allein um das Timemanagement mit Worten, verlieren schließlich alle an Glaubwürdigkeit und versinken in einem Strudel des Geplappers. Der Interviewer selbst wird zum Clown. Der Interviewte zum Spießgesellen und keiner hat mehr Lust, über die faden, aber wortgefüllten Witze zu lachen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Menschsein

Ein Kind wird geboren. Anschließend wird es von Menschen, die auch Kinder waren ans Kreuz genagelt. Menschen, die Kinder waren, foltern, morden, betrügen, verfolgen andere Menschen, die ebenfalls einmal Kinder waren. Sind bereits die Kinder böse, ihre Gene oder Geburt und Kindheit so traumatisiert, dass sie zwangsläufig nur durch rücksichtslose Vorteilssuche auf Kosten anderer ihre Verluste kompensieren können? Nichts scheint zu bleiben von einer unschuldigen Geburt, einer geborgenen Kindheit und Lebensfreude. Das Menschsein als Kampf und Behauptung, Anerkennung und Vorteil.

Schaut man auf uns Menschen, könnte man den Eindruck gewinnen, man schaffe nur die eigene Wehrhaftigkeit auf Kosten anderer, den armseligen Erfolg, der das Leben sichert. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem Leben wozu? Die Sinnfrage des Lebens kann nicht nur philosophisch, esoterisch oder religiös gestellt und beantwortet werden. Konkret stellt sich die Frage nach dem Leben durch Überprüfung des täglichen Handelns. Tägliches Handeln bedeutet hier, was wir unserem Kind geben, dass es sich persönlich und gemeinschaftlich so entwickeln kann, dass es einen Nutzen für unsere Gesellschaft darstellt. Die gleiche Frage nach dem Nutzen unseres Handelns müssen wir uns als erwachsene Menschen dann immer wieder selbst stellen.

Unser Menschsein kann sich nicht erschöpfen in einem Verhalten, das darauf angelegt ist, uns Vorteile zu sichern. Nur der Gebende ist gerecht. Das ist keine Gutmenschenplattitüde, sondern das Wissen darum, dass alles, was wir machen, von Menschen für Menschen gemacht wird. Darum geht es und nicht um absonderliche Selbstanerkennung und Bestätigung. Klar ist, dass nur der, der sich selbst annehmen kann, auch bereit ist, andere anzunehmen. Auch der Prozess des sich Annehmens ist keine Selbstschau auf die eigene Befindlichkeit, sondern eine Herausforderung, die durch die Menschwerdung entsteht.

Wir leben nicht, um möglichst viel Geld zu horten, zumal dies mit Ver-dienen schon deshalb nichts zu tun hat, weil kein Dienst an der Gemeinschaft damit verbunden ist. Es geht nicht darum, der Reichste, Schönste oder Klügste zu sein, sondern Erfahrungen zu sammeln mit anderen Menschen, die der Gemeinschaft erlauben, sich weiter zu entwickeln. Um dies zu gewährleisten, müssen auch die Bedingungen dafür stets erhalten und verbessert werden, sei es in der Natur, den Produktionsabläufen, im Dienstleistungsbereich, der sozialen Kontrolle und wo auch immer dies erforderlich ist. Viele halten sich nicht daran und verraten damit ihr eigenes Menschsein.

All diejenigen, die auf Kosten anderer leben und diese dadurch verachten, haben ihr Menschsein aufgegeben und sind lediglich Schatten eines eigentlichen Lebens. Eine Menschheit, die sich ihrer integren Verfasstheit selbst bewusst ist, könnte ihnen ihre Grenzüberschreitungen vorhalten und ihm Gelegenheit geben zu erkennen, dass sie letztlich nichts anderes sind, als Menschen und dies als Programm der Selbstbescheidung begreifen müssten.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Phänomenologie

Beherrscht der Computer unsere Sprache? Eher nicht. Er kann sie nachahmen, uns helfen bei der Arbeit oder zu Hause, Dinge zu finden, Entscheidungen zu treffen, das Internet der Dinge in Betrieb zu setzen. Digitale Stimmen haben Frauennamen und vermitteln ein individuelles Bemühen, Sorge und Häuslichkeit.

So korrespondiert der Computer mit unserem Gemüt, spricht allerdings nicht unsere Sprache, die nicht nur aus elektrischen Impulsen besteht. Unsere Sprache hat einen kognitiven und einen emotionalen Hintergrund, wird geprägt von Erinnerungen, sozialem Leben und körperlichem Vermögen. Die Computersprache erlernen wir, um dann festzustellen, dass sie nicht abänderbar ist. Die Computersprache besteht nur aus Zeichen in unendlicher Vielfalt, zwar fähig, unsere Sprache zu imitieren, aber nicht zu ersetzen.

Die Computersprache ist der synthetischen Phänomenologie zuzuordnen und entspricht nicht dem Stoffwechsel Mensch und Maschine, sondern ausschließlich den Errungenschaften eins Paralleluniversums. Es wäre geboten, ein Moratorium der synthetischen Phänomenologie zu schaffen und sich daran zu machen, die digitale DNA zu entschlüsseln.

Nur so können wir technologische Gewissheiten eingrenzen, kognitive und emotionale Spekulationen überwinden und Furcht und Staunen sowie reine Experimentierfreude hinter uns lassen. Wenn die Untersuchung gelingt, erkennen wir auch im Fremden digitale uns selbst verwandte Strukturen, die selbstbehauptend und sich selbstentwickelnd wirken, aber nicht konkurrenzlos sind. Die menschliche Identität ist eine Herausforderung für jede Maschine und vor allem für das von ihr geschriebene Programm, dessen sie sich hoffentlich nie gewachsen sieht und an ihrer eigenen Unfähigkeit scheitert.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gedankenerfinder

Ich bin ein Erfinder von Gedanken. Keiner meiner Gedanken ist es wert, auf die Goldwaage gelegt zu werden. Diese Gedanken sind auch nicht meine Gedanken im Besonderen, sondern es sind Gedanken, die mir zufliegen, wie Körner des Mondstaubs oder Mücken. Es gibt Gedanken, die mich piksen, die ich lästig abschüttle und manche, die ich wie Staub auf dem Mantel trage. Um andere Bilder zu nutzen, Gedanken sind wie Jonglierbälle. Ich werfe sie hoch, sie fallen zurück, sie schnellen wieder empor oder schnurren wie bei einem Jo-Jo an einem anderen Gedanken entlang, bis sie auspendeln.

Keiner der von mir erfundenen Gedanken hat irgendeinen Sinn, den ich ihm beilege. Jeder der Gedanken verfügt aber über einen eigenen Sinn, der aufbricht, wenn der Gedanke sein Ziel erreicht hat. Als Erfinder von Gedanken bin ich nur Medium, mäßig beteiligt, an dem sich selbst schaffenden Produkt. Es macht aber Spaß, Gedanken zu erfinden, sie zu diktieren, aufzuschreiben oder zu artikulieren, um anderen Menschen Gelegenheit zu geben, mit diesen Gedanken etwas anzufangen, was ihnen vielleicht nützen könnte.

Der Sinn meiner Gedanken liegt also ausschließlich in ihrer Erfindung. Wenn ich meine ganze Kraft darauf konzentriere, möglichst viele Gedanken hervorzubringen, kann es am Ende sein, dass irgendein Gedanke auslösend für Gedanken anderer sein kann. Wenn ich zum Beispiel den Gedanken äußere, dass wir Menschen alles von Menschen für Menschen machen, kann dieser eigentlich selbstverständliche Gedanke eine Revolution auslösen, die den Planten rettet und uns das belässt, was wir mit der Natur zum Leben benötigen. Ein einfacher Gedanke zwar, aber vielleicht für den Augenblick noch der Sinnvollste.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Entscheidung

Die Begrifflichkeit „Entscheidung“ ist schillernd. Die Entscheidung, die ich aus Verantwortung oder aus Leichtsinn selbst treffe, korrespondiert nicht mit einer Entscheidung, die eine Maschine oder ein Umstand trifft. Selbst, wenn ich entschieden habe, 10 Minuten früher aus dem Haus zu gehen, trifft letztlich dieser zeitliche Umstand die Entscheidung, ob mein Leben sich verändert, es mir gut oder schlecht geht.

Bruchteile von Sekunden spielen bei der Gestaltung meines späteren Lebensweges eine ausschlaggebende Rolle. Wir sind nicht frei. Wir sind selbst dann nicht frei, wenn wir glauben, frei entscheiden zu können. Alle Entscheidungen, die wir treffen, sind von Dingen geprägt, die ihre Wurzeln in unserer Geschichte, den Umständen und Vorbehalten finden, denen wir uns noch nicht einmal bewusst sein müssen.

Aber Entscheidungen bedingen Entscheidungen und setzen in jedem Augenblick unseres Seins Impulse frei, die unser Leben ändern. Die permanente Lebensveränderung ist das der Entscheidung innewohnende Prinzip, und zwar auch dann, wenn die Entscheidung Entwicklungen verhindern sollte. Wenn der Mensch die Entscheidungsprozesse zu seiner Person zurückspult, stellt er selbst bei einfachen Beispielen seiner Entwicklung fest, wie fragil der ganze Prozess ist und wie leicht alles ganz anders hätte sein können. Das lässt den Menschen oft an der Sicherheit zweifeln, obwohl er auf diese doch so dringend angewiesen ist und nach ihr strebt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski