Archiv der Kategorie: Soziales

Hier finden Sie meine Gedanken, Ideen und Anreize zu gegenwärtigen und vergangenen sozialen Themen, die mich und meine Umwelt bewegen.

Streit

Konflikte, Auseinandersetzungen und Streit sind gängige Erfahrungen von Menschen, welche durch ihre Ansprüche, Interessen, verfestigte Ansichten, Sorgen und Meinungsverschiedenheiten befördert und gespeist werden. Streit wird zwar einerseits als Belastung und Stress, andererseits aber auch als Befreiung empfunden. Wie ist es also um die Produktivkräfte des Streits bestellt?

Streit kann zuweilen in der Lage sein, neue Sichtweisen zu öffnen, Kräfte energetisch freizusetzen und ist daher unverzichtbar für persönliche menschliche Klärungsprozesse und auch das Gelingen unserer Gesellschaft.

Um dies im allgemeinen Kontext zu verdeutlichen, wähle ich das einschneidendste gesellschaftliche Streitthema, und zwar den Krieg. Gäbe es keine Konflikte mehr unter den Staaten und damit auch keine Möglichkeit des Krieges mehr, erschiene dies zunächst als sehr verlockend, könnte aber auch weltweit erheblich zu Einschränkungen von Wirtschaftsleistungen und damit zur Reduzierung des Bruttosozialprodukts von Staaten beitragen. Wir wissen, dass die Waffen, die für kriegerische Auseinandersetzungen benötigt werden, angeblich einen erheblichen und teilweise unverzichtbaren Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung leisten. So kann man dem Streit auch einen wirtschaftlich produktiven Vorteil – zumindest auf Zeit – beimessen, wie zuweilen behauptet wird. Zudem weisen Streitereien oft auch einen kathartischen Effekt auf, der sich in wohltuender Erschöpfung frei nach Hamlet zu äußern vermag: „When they all are crying, dying and dead don’t you like it like that.“ So wohnt dem Streit nicht nur ein sich selbst erschöpfendes Moment in Erwartung seines Endes inne, sondern enthält auch reinigende Tatbestände, schärft die Sinne, stärkt die Leistungsfähigkeit und sprengt auch die Grenzen des emotional Möglichen.

Das ist das Eine, das Andere ist natürlich die zerstörerische Kraft des Streits, der psychische und physische Verwüstungen hervorzurufen und zu hinterlassen vermag. Da jedem Menschen ein Lebensversprechen zu seiner körperlichen Unversehrtheit bei der Geburt zuteil wurde, ist jeder Streit, der die Menschenwürde infrage stellt, in keiner Weise, also auch nicht durch wirtschaftliche und angebliche zivilisatorische Fortschritte zu rechtfertigen. Niemals dürfen wir die Verantwortlichkeit für unser Handeln mit der Behauptung des Angegriffenseins in Frage stellen.

Als Mitwirkender an einem Streit sind wir immer Opfer und Täter zugleich.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zwischenräume

Durch dazwischengehen, dazwischenhauen, dazwischentreten und dazwischenreden, schaffen sich Menschen zuweilen Platz für ihre Ansichten, Meinungen, Gedanken und vielleicht auch Gefühle.

Durch das Dazwischensein, machen sie sich indes abhängig von den Begrenzungen und müssen ihre Dazugehörigkeit im Zwischenraum belegen. Ohne die Begrenzungen sind Zwischenräume nicht möglich. Es sind die Zwischenrufe, die sich Platz verschaffen zwischen den zunächst vermuteten Eindeutigkeiten. Indem sie aber anschwellen, vermögen sie, die Begrenzungen zu sprengen und selbst den Platz zu besetzen, der zunächst als Begrenzung des Zwischenraums erschien. Wenn einige Agitatoren verleitet sein mögen, durch Zwischenrufe zu spalten, können andere Menschen durch Dazwischengehen und Dazwischentreten befriedend und befreiend wirken.

Wer Zwischenräume öffnet, kann provozieren, irritieren oder ermöglichen. Wer sich dazwischen begibt, ist versucht, Räume für andere Ansichten und Meinungen zu öffnen, was provozierend, irritierend oder beängstigend sein kann. Wer dies aber tut, übernimmt Verantwortung für sein „Dazwischengehen“, das Veränderungen schafft, welche auf die Ursache des Eingreifens zurückwirkt und abermals Grenzen setzt. Es kann aber immer wieder etwas dazwischenkommen. Darauf müssen wir uns einstellen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zusammenhalt – Bindung

In Gedichten, Liedern und Parolen versichern sich Menschen im privaten, öffentlichen und gesellschaftlichen Bereich des Zusammenhalts, der Bindung und der Unterstützung. Füreinander da zu sein, ist ein beliebter Aufruf und entspricht dem Anspruch durch wechselseitige Versicherungen, gemeinsam Herausforderungen des Lebens in der Zuneigung, Familie, Beruf und auch im öffentlichen Raum zu meistern, Probleme zu lösen, Angriffe abzuwehren und das Leben für alle Beteiligten sicherer und planbarer zu gestalten.

Treiber sind dabei Einsicht, Vernunft und Lebenswille. Inhaltlich wird dieser Anspruch durch einen Kodex, der ein verlässliches Maß an Orientierung im Handeln erlaubt, unterstützt. Sowohl im privaten, als auch im gesellschaftlichen Raum haben sich die Kriterien für Verhaltensweisen herausgebildet, die Menschen veranlassen, so zu sein und zu handeln, dass sie nicht nur mit den Erwartungen anderer Menschen korrespondieren, sondern sich dabei auch ihrer eigenen Integrität versichern können.

Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch muss die Verabredung verbindlich sein. Toleranzen innerhalb abgesteckter Erwartungshaltungen sind dabei zwar zuträglich, werden diese allerdings wesentlich überschritten, bleibt ein organisatorisches Eingreifen unvermeidlich, um den Zusammenhalt und die Bindung innerhalb eines gestellten Ordnungsrahmens weiter zu gewährleisten. Wie im persönlichen Bereich, ist dafür auch im gesellschaftlichen Bereich eine Resilienzstrategie, die stets eingreift, wenn der Toleranzrahmen überschritten wird, erforderlich. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die präventiv wirken, d. h. bereits sich anbahnende Störungen des Zusammenhalts und der Bindung begutachten, Lösungen anbieten und ggf. dafür sorgen, dass Verabredungen regelbasiert auch künftig eingehalten werden. 

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Blickwinkel

Stellen wir uns irgendeinen Gegenstand, auf den alle Blicke gerichtet sind, vor. Sehen wir alle dasselbe? Wenn es zum Beispiel ein Stein ist, sagen wir, es sei ein Stein und meinen das Gleiche, oder?

Bedenken wir, dass ein Gegenstand seine endgültige Einordnung erst im Gehirn des Betrachters erfährt, denn die Botschaft, welche der Stein bezüglich seiner Existenz sendet, erfährt seine Individualisierung erst in der Korrespondenz mit allen unseren individuellen, visuellen, kognitiven und emotionalen Sensoren. Es ist also logisch, dass jeder Mensch auf jeden Gegenstand seiner Betrachtung einen eigenen Blickwinkel hat, das Prüfverfahren routiniert, unterbewusst und blitzschnell erfolgt und sich in unserem Beispielfall darauf festlegt, dass es sich um einen Stein handele. Hier mag die Wahrnehmung noch keine besonders weitreichende Tragweite zu haben. Doch wie verhält es sich beim Betrachten und Beurteilen von Vorgängen, bei denen die Verabredung nicht so eindeutig erfolgen kann und Maßstäbe und Blickwinkel eine bedeutende und zuweilen entscheidende Rolle spielen?

Ist es da nicht so, dass wir auch hier sehen, was wir gewohnt sind zu sehen, und zwar auch dann, wenn wir wissen, dass Abweichungen von der Realität möglich sein könnten?

Wenn wir aber dann doch auf unsere Sichtweise bestehen und den Blickwinkel festlegen, machen wir dann nicht stets den Gegenstand unserer Betrachtung ausschließlich zur Eigenwahrnehmung unserer Gedanken und Gefühle? Kann das, was wir zu sehen glauben, nicht vielleicht auch eine Projektion dessen sein, was andere für uns verabredet haben? Alle Erfahrungen des Menschen sind einstudiert, beruhen auf Informationen, Training und Verabredung. Dafür sind Kompetenz, Sachverstand und Regeln erforderlich. Werden diese geschreddert durch behauptete Eindeutigkeiten der Betrachtung und Beurteilung, ist zu fragen, ob dieser Blickwinkel, den wir zum Maßstab unseres Sehens machen, nicht nur eine opportunistische Verarbeitung des Betrachtungsgegenstandes zulässt und diesen so verfälscht?

Wenn nicht mehr wichtig ist, was wir sehen, sondern behauptet wird, was wir glauben zu sehen sei zutreffend, entscheiden wir uns für einen verfremdeten Blickwinkel, der auf jegliche Wahrhaftigkeit verzichtet. Wenn wir uns darauf einlassen, beschränken wir uns auf eine uns aufoktroyierte Behauptung der Erkenntnis und verraten die Wirklichkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schmerz

„Schmerz, wo ist dein Stachel?“ In Abwandlung von Korinther 15, Vers 55 meine ich die lebzeitige Wahrnehmung des Schmerzes und nicht des Todes in Gefühlen und Gedanken.

Schmerzauslösend ist oft der Körper, der vereinzelt oder umfassend über die Nervenbahnen Impulse auslöst. Mit eingeschlossen sein sollten die seelischen Schmerzen, obwohl ein Organ, welches als Seele bezeichnet werden könnte, im menschlichen Körper nicht verifizierbar ist. Meist körperliche, aber auch sich geistig und seelisch manifestierende Schmerzen beziehen sich auf Umstände, die bei einem Menschen Empfindungen auslösen, die keiner körperlichen Wahrnehmung mehr zuzuordnen sind, aber gleichwohl vielfältige Reaktionen bei ihm hervorrufen können.

Weltschmerz ist dabei ein weiteres Stichwort. Dieser umfasst alle Bereiche der persönlichen und kollektiven Verfasstheit, ungeklärter Erwartungen und Versagens. Weltschmerz ist ein Sammeltopf für viele nicht eindeutig zuordenbaren schmerzliche Zumutungen in der Beziehung zu anderen Menschen, bei ungeklärten Umständen im persönlichen Bereich und in der Gesellschaft insgesamt.

Welches Zeichen vermittelt uns aber dieser Schmerz und welchen Sinn birgt er? Schmerz hat eine Warnfunktion, die jeden einzelnen Menschen davor schützen soll, sich in der Ich-Verwirklichung so zu verausgaben, dass sein Körper einschließlich seiner Seele und seiner Gedanken Schäden davontragen. Nicht nur als Korrektiv für unsere Maßlosigkeit, sondern auch als Erinnerung an unsere eigene Verletzlichkeit sollte der Schmerz uns aber bei der Bewältigung von Aufgaben helfen und uns ermahnen, anderen nicht zuzufügen, was wir selbst nicht erleiden wollen.

Der präventive Gedanke des Schmerzes wird herausgefordert durch den dem Menschen innewohnenden Willen, die existenziellen Begrenzungen zu überwinden. Soweit dies aber zur Verrohung und Abstumpfung führen sollte, mahnt der Schmerz uns, Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten und uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Denkfabrik

Sind manche Menschen unfähig, überhaupt zu denken, haben sie aufgehört zu denken oder benötigen sie nur eine Anleitung zum Denken? Sind andere Menschen, die in Denkschulen, Denkfabriken oder Denkbanken organisiert sind, im Grunde ihres Wesens für das Denken zuständig, weil wir ohne deren Hilfe und Anleitung zum richtigen Denken ein erwartbares Denkpensum überhaupt nicht erledigen könnten? Sind – so wage ich es kaum zu denken – manche Menschen auch denkfaul, herzensfroh, dass andere für sie denken? Könnte es vielleicht aber auch so sein, dass sozusagen in vorauseilender Erwartungshaltung manche so von ihrem Denken überzeugt sind, dass sie meinen, dass andere ohne ihre Gedanken nicht zurechtkämen und sie daher die Weichen zum sinnvollen Denken anderer Menschen zu stellen hätten oder deren Denken durch ihr eigenes Denken sogar überflüssig machen könnten, also das Eigendenken ersetzen könnten durch das Fremddenken? Aber, wer benötigt dies? Besteht für dieses Vorhaben eine Nachfrage? Wahrscheinlich schon.

Gedankenmärkte boomen. Ratgeber jeder Art zum richtigen Denken sind Bestseller, unzählige Talkshows und Podiumsdiskussionen vermitteln eine Flut von Gedanken. Manche davon sind in der Tat originell, die meisten aber bekannt und rückbezüglich, also in dem Sinne, als würde ich denken und sagen, was andere schon gedacht und gesagt haben. Schon deshalb müssten sie richtig sein. Man müsste ihnen also vertrauen können. So werden die Gedanken wie der alte Wein in „neuen Schläuchen“ attraktiv verpackt, als Neuerung gepriesen, unbeschadet jeden Realitätsstresses, der beweisen könnte, dass der Urheber des angeblich so neuen Gedankens sich schlicht und einfach einer neuen Begrifflichkeit bedient hat, um Gedankenprodukte auf den Markt zu bringen.

Gedanken, die in einem Sinnzusammenhang stehen, müssen das Denken anderer Menschen mitbedenken und sich einfügen in ein System des Denkens, das keinen Alleinstellungsanspruch für sich erhebt, denn im Angebot des Mitdenkens liegt eine Aufforderung an alle Denkwilligen, sich ebenfalls kritisch oder unterstützend mit ihrem Denkpotential in den institutionellen Prozess einzubringen. Das ist eine gute Möglichkeit, der Vereinsamung des Denkens zu begegnen und dabei auch unter Berücksichtigung der Umstände den ganzheitlichen Aspekt des Denkens zur Geltung zu bringen.

Denken ist nicht nur ein kognitiver, rationaler Vorgang, sondern auch ein emotionaler und schließt mehr ein, als die eigene Verortung im Denken, die durch Denkfabrikate geschaffen werden. Produkte jenseits unseres Verstandes, jenseits unseres Wissens und Erfahrung sind gefragt. Sie mehren unsere Vielfalt des Denkens, um auf diese zu gegebener Zeit bei entsprechender Nachfrage zurückgreifen zu können.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Media Overflow

Sollte ich etwa behaupten, dass es ein mediales Überangebot gäbe, würden mir wahrscheinlich etliche Menschen zustimmen. Einmal unterstellt, dies wäre richtig, so kommt es dabei, so meine ich, weniger auf das vielfältige Medienangebot an sich an, sondern vielmehr auf dessen Wirkung im Empfängerbereich. Die Empfänger, das sind letztlich wir, als die Konsumer aller medialen Botschaften.

Und wer sind wir? Wir sind die Menschen, die hochbegabt und emsig die technischen Voraussetzungen geschaffen haben, die das hohe Medienangebot ermöglichen und uns dessen Konsum auch zur Verfügung stellen. Und genau da scheint mir auch ein Problem aufzutauchen. Es ist so mit dem Konsum jeglicher Ware: Irgendwann macht er uns satt, wir haben genug davon und erkranken sogar an ihr. All dies ist auch bei dem Konsum von Medienartikeln nicht ausgeschlossen. Deshalb gibt es zunehmend Warnhinweise und nicht nur solche, die sich an Kinder richten.

Aber, wo beginnt das schwer konsumierbare, also schwer verdaubare Angebot? Meines Erachtens bereits mit dem medialen Erstkontakt. Weshalb? Weil wir Menschen weder über die Speicher, noch über ausreichende Verarbeitungsfähigkeit verfügen, differenziert und ganzheitlich permanente Medienangebote abrufbar zu speichern und zu verarbeiten. Wir behelfen uns mit der flüchtigen Lektüre, dem Wegdrücken von Informationen und der Einschaltung von KI zu deren jederzeitiger Reproduktion. Damit versuchen wir, einen Teil unseres eigenen an sich erforderlichen medialen Verarbeitungsprozesses auszulagern, allerdings ohne dabei zu berücksichtigen, dass dies vielleicht nur dann möglich sein kann, wenn uns bei Bedarf das richtige Stichwort wieder einfällt oder irgendjemand oder irgendetwas uns sagt, wo wir welche Informationen hinterlegt haben.

Dessen ungeachtet – so meine ich – nutzen Informationen sich auch ab, d. h. je mehr Informationen wir empfangen, desto mehr verlieren sie an Komplexität, erstarren in einem Muster, das uns selbst lediglich als Bestätigung des bereits Gehörten oder Gesehenen dient und passgerecht geformt wird. Dabei handelt es sich um einen sehr menschennahen Prozess der Vereinfachung und Bestätigung. Je umfassender das mediale Angebot ist, umso bereitwilliger filtern wir das nur uns Bekannte heraus und für den Rest gilt: ab in die Tonne.

So versuchen wir, der eigenen und letztlich auch der kollektiven medialen Überforderung zu entgehen und einen Rest von Sicherheit angesichts des ungeheuren medialen Angebots zu bewahren. Denn kein Mensch ist in der Lage, alles, was ihm medial angeboten wird, aufzunehmen, zu begreifen und gar zu verarbeiten. Die damit verbundene, aber unterdrückte Unsicherheit verstärkt den Prozess des individuellen Widerstandes gegen bestimmte Informationen und deren gemeinschaftlichen medialen Akzeptanz.

Dies schafft Konformität im medialen Konsum, in der Speicherung und der Verarbeitung. Damit wirken Medien entgegen ihrer Intentionen im Ergebnis antiliberal, ja, es ist sogar zu befürchten, dass die demokratische Pluralität und auch die individuelle Wesenheit des Menschen durch das Überangebot an medialem Einfluss erheblichen Schaden nimmt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Gewalt

Das Wunder seiner Geburt hat jedem Menschen das Leben versprochen, dass ihm im eigenen und unser aller Interesse die Chance eröffnen soll, seinen Beitrag für sich und die gesamte Menschheit zu leisten. Um dies zu ermöglichen, muss der werdende Mensch aufnahmefähig und aufnahmebereit, wissens- und lernbegierig sein.

Diese Prägung erfährt das Kind allerdings nicht nur durch Eigenermächtigung, sondern vor allem durch andere Menschen, zunächst seine Eltern, aber auch religiöse, staatliche und sonstige weltanschauliche Institutionen. Das Lebens- und Weltbild eines Kindes ist also auch fremd- und nicht nur eigenbestimmt und bleibt es durch das ganze Leben hinweg, je nachdem, ob und wie der Mensch erkennt, welche Vorteile ihm ein an die Verhältnisse anderer Menschen angepasstes Verhalten bringen. Da ein Kind, also ein werdender Mensch, demzufolge auch nicht getötet werden will, entwickelt es aus sich selbst heraus auch nicht das Bedürfnis, andere Menschen zu töten.

Sowohl ein Kind zu töten, als auch nur zuzulassen, dass werdendes Leben getötet wird, anstatt für dessen Schutz einzustehen, ist ein fundamentales Vergehen gegen alles Sein. Ein Leben zu töten, bevor es überhaupt Gelegenheit hatte, seine Prägung zu erfahren und seine Bedeutung für das Menschsein zu ermessen, widerspricht also dem Lebensprinzip.

Gewalt gegen Menschen in der Form von Terror mag politisch möglicherweise opportun sein, aber menschlich nicht zu rechtfertigen, weil es also dem Wesenskern des Seins widerspricht. Kein Tier tötet ein anderes Tier aus Hass. Es ist also nicht seiensimmanent und keine fundamentale menschliche Eigenschaft, Gewalt und Terror auszuüben, sondern Ursache dessen sind Selbstermächtigungen wie Macht und Gier als Motor aller Grausamkeiten, die von dem Ausübenden selbst je nach Opportunität religiös, wirtschaftlich oder politisch gerechtfertigt werden.

Das mag im eigenen „Echoraum“ zunächst gelingen, aber die historischen Vorbilder des Terrors zeigen, dass Zeiten der Unsicherheit und der Ratlosigkeit sich allmählich selbst erschöpfen, wenn die Friedhöfe wachsen, der Nachschub an Soldatinnen und Soldaten versiegt, der Reichtum schwindet und das Leben aller bedrängt wird.

Gewalt und Terror führen nicht nur unmittelbar zum Verlust von Menschenleben, sondern zerstören auch die Umwelt, gefährden den Klimaschutz und führen uns so drastisch vor Augen, dass kein Gott mehr Erbarmen mit den Terror ausübenden Verbrechern haben wird, selbst wenn diejenigen schließlich erkennen, dass sie nur nützliche Idioten anderer, mittelbarer Täter waren, nun aber die Konsequenzen ihres Handelns tragen müssen.

Gewalt beginnt bereits mit dem Gedanken daran, diese zuzulassen.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zerstörungslust

„Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Wie lässt sich dieser Aufruf begründen? Vielleicht damit, dass der Mensch ein Recht hat, das zu zerstören, was nach seiner Einschätzung ihn angreifen und zerstören könnte. Da von Auspuffgasen bis zur digitalen Transformation es über­haupt nichts gibt, was den Menschen nicht belasten und zumindest seine Gesundheit auch psy­chisch zerstören könnte, muss der Mensch seine Umwelt grundsätzlich als feindlich und zer­störerisch wahrnehmen. Ergo hat er das Recht zu zerstören, was ihn kaputt macht!

Worauf ba­siert aber diese Gewaltbereitschaft, die nicht nur der einzelne Mensch als Opfer und Täter erfährt, son­dern auch Staaten, Gesellschaften und Völker? Ist Gewalt seiensimmanent? Betrachtet man die Menschheitsgeschichte, kann man sich der Frage nicht entziehen, ob Gewalt nicht Teil der menschlichen Identität ist. Ist sie aber für unsere Wesensbestimmung notwendig?

Diese Frage dürfte geschichtlich dahingehend zu beantworten sein, dass es darauf ankommt. Gewalt ist im­mer schon ein Instrument der Absicherung gewesen, soll Platz schaffen für das eigene Ge­schlecht und die eigenen Nachkommen. Was sich für das Geschlecht trotz großer Opfer früher als hilfreich erwies, wurde für Völker und Staaten ebenfalls als Handlungsmaxime übernommen. Gemeinsam sind die Menschen stärker, als jeder Mensch für sich allein. Von der puren Lust an der Zerstörung ist eine solche Verhaltensweise nicht geprägt, dennoch dienen die archaischen Ver­haltensmuster als Blaupausen für Gewaltakte, deren Rechtfertigung auf der unbewiesenen Behauptung einer Bedrohung und eines potentiellen Angriffes beruht.

Derzeit erleben wir dies zum Beispiel in dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Was könnte die Ukraine in Russland denn kaputt machen, was den Krieg Russlands gegen die Ukraine hätte rechtfertigen können? Nach meiner Einschätzung nichts, objektive Umstände sind nicht erkennbar. Dennoch baut Russland durch seinen Feldherrn Putin eine Gewaltkulisse auf, wonach in der Ukraine Faschisten regierten, die beseitigt werden müssten und zudem nur ein Präventionskrieg mit der Zerstörung der Ukraine das Nato-Bündnis davon abhalten könnte, seinerseits Krieg mit Russland zu führen.

Die Paranoia eines Feldherrn, die sich auf einen Teil seines Volkes überträgt, reicht also aus, die Be­gründung dafür zu liefern, dass ein Staat zerstört und seine Bewohner getötet werden sollten. Dieses, jederzeit auf alle Konflikte übertragbare Muster eines Konflikts, kann nicht aufgehoben werden, solange der Mensch glaubt, auch aus einer gewaltbereiten Konkurrenzsituation Vorteile für die eigene Machtsicherung und Zuwachs eines Gewinns abschöpfen zu können.

Der Appell, kaputt zu machen, was einen selbst kaputt macht, offenbart den Menschen als ein gieriges Wesen, das die Schuld bei anderen konstruiert und gewaltbereit handelt, um der Selbsterkenntnis und der Eigenverantwortung dafür zu entgehen, dass er das Leben anderer allein zu seinem eigenen Vorteil zerstört und dafür noch eine passende Erzählung erfindet.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Zauberberg

Thomas Manns Bildungsroman kam mir in den Sinn, als mir von Patienten von einer Einrichtung berichtet wurde, die nicht in den luftigen Bergen der Schweiz liegt, sondern ohne Tageslicht im Keller der Charité. Dort werden keine Tuberkulose-Kranken versorgt, sondern der Versuch unternommen, sehr kranke Krebspatienten mit Hilfe von Strahlentherapien so zu behandeln, dass sie eine außerordentlich große Chance haben, wieder geheilt ins Leben zurückzukehren.

Auch, wenn der Aufenthalt der Patienten nur ambulant erfolgt und auf wenige Monate begrenzt ist, ist es doch offenbar so, dass Prozesse in Gang gesetzt werden, die alle Teilnehmer in unverhoffter Weise zu einer Gemeinschaft auf Zeit werden lassen. Diese Gemeinschaft schließt Ärzte, Angehörige des Pflegepersonals und Verwaltungskräfte mit ein. Es entsteht durch Blickkontakte, allmählich auch durch sprachliche Kommunikation eine Vertrautheit, die persönliche Nachfragen zum Befinden, zu Urlaubsplänen und sonstigen privaten Vorkommnissen zulassen.

Zögerlich zwar, aber durch den längeren Aufenthalt ständig gesteigert, entsteht ein wechselseitiges Interesse, welches auch begünstigt, dass sich die Patienten ohne Vorbehalte den Ärzten und dem Pflegepersonal anvertrauen. Distanziertheit, Scham und jede Form des persönlichen Widerstandes schwinden allmählich. Es ist unwahrscheinlich, dass Patienten, die auf die Dauer von etwa drei Monaten stets werktäglich zur etwa gleichen Zeit diese Abteilung aufsuchen, sich zuvor schon einmal begegnet sind. Es treffen sich also sehr fremde Menschen, gezeichnet von der Anspannung einer beginnenden Therapie, die sich regelmäßig auf etwa 40 Bestrahlungen insgesamt u. a. mit hohem Energieeinsatz der extrem teuren, aber effektiven Geräte belaufen.

Jedem Neuankömmling ist seine Unsicherheit, Sorge vor dem, was passieren wird, anzumerken. Es bleibt die Skepsis gegenüber der richtigen Behandlungsart, die Angst vor der Wirkung auf die inneren Organe, bange Erwartungen, ob der beabsichtigte Erfolg sich später auch einstellen wird. Es sind jüngere und ältere Patienten dabei, sie kommen aus den unterschiedlichsten Familien und gingen bzw. gehen auch unterschiedlichsten Berufen nach, seien diese Polizisten, Staatssekretäre, Taxifahrer, Ärzte oder Anwälte. Einige sind auch schon Rentner oder Pensionäre.

Was alle Beteiligten vom ersten Tag des Betretens dieser Unterwelt an eint, ist die Unausweichlichkeit des täglichen Rituals im Interesse einer möglichen Genesung. Wenn jeder darum weiß, schwinden plötzlich alle Grenzen der Verständigung. Mit dem Grüßen fängt es an, dann folgt schnell der Übergang in ein vertrauliches Du. Woher man kommt, spielt bei der Art und Weise der Begegnung überhaupt keine Rolle mehr. Man lernt sich kennen, indem man sich über das tägliche Befinden auch in intimsten körperlichen Bereichen austauscht, über Erschöpfungen, Schmerzen und Missbehagen spricht.

Die Zeit, die man jeden Tag miteinander verbringen muss, wird so auch eine Zeit, die man miteinander verbringen will, weil jeder teilnehmende Patient Gesprächspartner findet, die ebenfalls Zeit und Muße haben werden, sich einander zu widmen. Es geht dabei nicht nur um Offensichtliches, Allgemeines, sondern vor allem auch um sehr persönliche durch Empfindungen gesteuerte Angelegenheiten.

Aus dem Kennenlernen entwickeln sich Kumpel- und Kameradschaften, zuweilen auch Freundschaften, die weit über die gemeinsamen Momente im Tiefgeschoss hinausgreifen. Die „Drei von der Tankstelle“ hießen zum Beispiel Patienten, die nicht nur anderen Betroffenen, sondern auch vielen Angehörigen der Station durch die Intensität ihrer morgendlichen gemeinsamen Gespräche aufgefallen waren und auch diese es sehr bedauerten, dass mit Beendigung der Therapie sich diese Gruppe zwangsläufig auflöste. Die „Drei von der Tankstelle“ sind aber weiterhin freundschaftlich miteinander verbunden, pflegen zudem ihre Kontakte auch zu den Angehörigen dieser Krebstherapiestation. Dem Einsatz der dort Beschäftigten im Interesse ihrer Gesundheit verdanken sie sehr viel.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski