Archiv für den Monat: Dezember 2023

Belichtungsmesser

Nur wenn alles seinem Plan entspricht und stimmt, das Licht, der Winkel, der Film und die Kamera, dann drückt Rainer H. Schwesig auf den Auslöser. So inszeniert der Fotograf seine Fotografien und wählt nach Erforderlichkeit diejenigen Gerätschaften aus, welche eine optimale Umsetzung seines Vorhabens versprechen. So kommen analoge Aufnahmegeräte, Polaroid-Kameras, aber auch digitale Geräte, und die damit korrespondierenden Filme zum Einsatz. Deren Wahl ist kein Zufall, sondern entspricht einer planvollen Vorbereitung, die der Stimmigkeit von Motiv, Tageszeit, Lichtverhältnissen, der Position des Gerätes, ja sogar des Entwicklungsprozesses des Filmmaterials von vornherein mit einkalkuliert.

Zuweilen bedient sich der bildgestaltende Fotograf bei seinen Aufnahmen auch weiterer Hilfsmittel, wie zum Beispiel des Einsatzes wertvoller Linsen wie der Hasselblatt bestückten Drohnen. Seine Schüler am Lette Verein Berlin, Fachbereich Fotografie, überrascht er bei der Erläuterung dieser Technik gern mit dem Hinweis, dass das Kameraauge je höher es fliegen würde, desto weniger zu sehen bekäme. Deshalb nähert er sich Motiven auch mit der Drohne sehr gern nur auf Stativhöhe oder maximal bis zu einer Höhe von 10 bis 25 m. Der erfahrene Fotograf vermittelt seine Kenntnisse und Erfahrungen zudem als Dozent an der Lette-Akademie, wobei er seine Studenten darauf hinweist, dass die adäquate filmische Wiedergabe prozessual alle Stadien der Gestaltung mit einschließt, also auch die Entwicklung des Films. Er nennt dies konzeptionelle Fotografie-Bearbeitung und ergänzt, dass Entwicklungsprozesse auch mit Kaffee gelingen. Es gehe dabei um die Abgabe von Elektronen.

Wow! Nichts bleibt also Zufall, sondern folgt einem sorgsamen von ihm verinnerlichten Regelwerk, das die technischen Konsequenzen berücksichtigt, aber natürlich auch und vor allem das Erzählen von Geschichten erlaubt. Seine Geschichten sind diejenigen von Landschaften in Deutschland und Italien, Gebäuden und Interieurs, weiter auch Begegnungen mit Menschen, insbesondere Modellen, die er sogar teilweise selbst in Szene setzt.

Alles scheint nahe an der Wirklichkeit zu sein, ist es aber nicht. Jede Fotografie ist damit sein Produkt, also dasjenige des Fotografen Rainer Schwesig. So kann er es sich erlauben, die Fotografien auf Ausstellungen oder auch in Bildbänden so miteinander in Beziehungen zu setzen, dass die von ihm jeweils adäquat gewählten Gestaltungen seine eigenen Geschichten sind. Die Rollen sind dabei von ihm vorgegeben, beruhen auf Erfahrung, Neugier, Eingebungen, Ideen, dem freien weiten Blick, aber auch viel Spaß und Emotionen, die ihm zum Einsatz der jeweils erforderlichen Technik inspirieren.

Der Betrachter seiner Werke, zum Beispiel der von ihm illustrierten „Haikus“, wird angeregt, das unterbreitete Angebot anzunehmen und aus den Bildern selbst auch wieder eigene Geschichten zu formen, diese ggf. weiterzuentwickeln oder seine bisherige Vorstellung angesichts der Fotografien und ihrer Präsentation zu überprüfen. Im Betrachten seiner Werke vollendet sich der Prozess des Schaffens und Erlebens von Fotografien mit Hilfe eines Mediums, und zwar des Fotografen Rainer Schwesig selbst.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Heinz Dürr Nachruf

Der Schwabe Friedrich Hölderlin sagte einst mal, dass der Tod ein Bote des Lebens sei und der Weimarer Johann Wolfgang Goethe ergänzte: „Mein Leben war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben werden musste.“ Das passt für Heinz Dürr, der auch den Schriftsteller und Dichter Goethe sehr verehrte.

Die Familie Dürr hat ihrer Traueranzeige den damit korrespondierenden Spruch vorangestellt, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen sollten. Das Leben war für Heinz Dürr eine Aufgabe, die er pflichtgemäß zu erledigen hatte. Dieses Wälzen eines Steines, um im Bild Goethes zu bleiben, machte ihn zuweilen rastlos und ungeduldig. Die Ungeduld, die ihn trieb war aber konstruktiv, denn es gab immer viel für ihn zu tun. Er hatte sich der Arbeit verschrieben beim Aufbau der Dürr AG, als Verhandlungsführer bei Tarifkonflikten, als AEG- und Bahn-Chef, im „Forum für erneuerbare Energie“ zusammen mit der Schlecht-Stiftung in Stuttgart, in seiner eigenen Stiftung, der Heinz und Heide Dürr Stiftung, der Walther Rathenau-Gesellschaft und in vielen sonstigen ehrenamtlichen, privaten und öffentlichen Verpflichtungen.

Er war ein außerordentlich kluger und wichtiger Gesprächspartner, Ratgeber und guter Freund, voll Empathie, Witz und Wärme. Es war erfrischend, mit ihm zu sprechen und von ihm angesprochen zu werden. Jeder von uns hat diese Erfahrung gemacht. Er liebte Gedankenexperimente, hatte sich mit AI und KI auseinandergesetzt, auch etliche Bücher geschrieben und dabei zuweilen Cato, Ray Kurzweil und natürlich auch Walther Rathenau als seine Sparring-Partner für fiktionalen Gespräche bemüht.

Wie in „Die Physiologie der Geschäfte“ faszinierte Heinz Dürr im Sinne der Schriften von Walther Rathenau „Die kommenden Dinge“ – ebenfalls von Walter Rathenau – und was zu tun sei, um Fortschritt menschlich zu gestalten. Der Mensch sei kein Geschäftsmodell und Bildung von Anfang an sowie kulturelle Erfahrungen waren ihm genauso wichtig, wie wirtschaftliche Erfolge. Deshalb kümmert sich die Heinz und Heide Dürr Stiftung erfolgreich mit ihrem Early-Excellence-Programm um Kindergärten und Familien deutschlandweit, ferner um Autorentheater und andere kulturelle Vorhaben, aber auch um seltene Krankheiten, um nur einige der Aktivitäten der Stiftung zu nennen.

Bis zuletzt war Heinz Dürr nicht nur geschätzter Gesprächspartner für große Unternehmen, sondern auch in der Start-Up-Szene beratend aktiv. Er war ein integrer Mensch, der das beständige und entschiedene Handeln liebte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Denkfabrik

Sind manche Menschen unfähig, überhaupt zu denken, haben sie aufgehört zu denken oder benötigen sie nur eine Anleitung zum Denken? Sind andere Menschen, die in Denkschulen, Denkfabriken oder Denkbanken organisiert sind, im Grunde ihres Wesens für das Denken zuständig, weil wir ohne deren Hilfe und Anleitung zum richtigen Denken ein erwartbares Denkpensum überhaupt nicht erledigen könnten? Sind – so wage ich es kaum zu denken – manche Menschen auch denkfaul, herzensfroh, dass andere für sie denken? Könnte es vielleicht aber auch so sein, dass sozusagen in vorauseilender Erwartungshaltung manche so von ihrem Denken überzeugt sind, dass sie meinen, dass andere ohne ihre Gedanken nicht zurechtkämen und sie daher die Weichen zum sinnvollen Denken anderer Menschen zu stellen hätten oder deren Denken durch ihr eigenes Denken sogar überflüssig machen könnten, also das Eigendenken ersetzen könnten durch das Fremddenken? Aber, wer benötigt dies? Besteht für dieses Vorhaben eine Nachfrage? Wahrscheinlich schon.

Gedankenmärkte boomen. Ratgeber jeder Art zum richtigen Denken sind Bestseller, unzählige Talkshows und Podiumsdiskussionen vermitteln eine Flut von Gedanken. Manche davon sind in der Tat originell, die meisten aber bekannt und rückbezüglich, also in dem Sinne, als würde ich denken und sagen, was andere schon gedacht und gesagt haben. Schon deshalb müssten sie richtig sein. Man müsste ihnen also vertrauen können. So werden die Gedanken wie der alte Wein in „neuen Schläuchen“ attraktiv verpackt, als Neuerung gepriesen, unbeschadet jeden Realitätsstresses, der beweisen könnte, dass der Urheber des angeblich so neuen Gedankens sich schlicht und einfach einer neuen Begrifflichkeit bedient hat, um Gedankenprodukte auf den Markt zu bringen.

Gedanken, die in einem Sinnzusammenhang stehen, müssen das Denken anderer Menschen mitbedenken und sich einfügen in ein System des Denkens, das keinen Alleinstellungsanspruch für sich erhebt, denn im Angebot des Mitdenkens liegt eine Aufforderung an alle Denkwilligen, sich ebenfalls kritisch oder unterstützend mit ihrem Denkpotential in den institutionellen Prozess einzubringen. Das ist eine gute Möglichkeit, der Vereinsamung des Denkens zu begegnen und dabei auch unter Berücksichtigung der Umstände den ganzheitlichen Aspekt des Denkens zur Geltung zu bringen.

Denken ist nicht nur ein kognitiver, rationaler Vorgang, sondern auch ein emotionaler und schließt mehr ein, als die eigene Verortung im Denken, die durch Denkfabrikate geschaffen werden. Produkte jenseits unseres Verstandes, jenseits unseres Wissens und Erfahrung sind gefragt. Sie mehren unsere Vielfalt des Denkens, um auf diese zu gegebener Zeit bei entsprechender Nachfrage zurückgreifen zu können.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski