Archiv des Autors: Sabine Büttner

Zusammenhalt – Bindung

In Gedichten, Liedern und Parolen versichern sich Menschen im privaten, öffentlichen und gesellschaftlichen Bereich des Zusammenhalts, der Bindung und der Unterstützung. Füreinander da zu sein, ist ein beliebter Aufruf und entspricht dem Anspruch durch wechselseitige Versicherungen, gemeinsam Herausforderungen des Lebens in der Zuneigung, Familie, Beruf und auch im öffentlichen Raum zu meistern, Probleme zu lösen, Angriffe abzuwehren und das Leben für alle Beteiligten sicherer und planbarer zu gestalten.

Treiber sind dabei Einsicht, Vernunft und Lebenswille. Inhaltlich wird dieser Anspruch durch einen Kodex, der ein verlässliches Maß an Orientierung im Handeln erlaubt, unterstützt. Sowohl im privaten, als auch im gesellschaftlichen Raum haben sich die Kriterien für Verhaltensweisen herausgebildet, die Menschen veranlassen, so zu sein und zu handeln, dass sie nicht nur mit den Erwartungen anderer Menschen korrespondieren, sondern sich dabei auch ihrer eigenen Integrität versichern können.

Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch organisatorisch muss die Verabredung verbindlich sein. Toleranzen innerhalb abgesteckter Erwartungshaltungen sind dabei zwar zuträglich, werden diese allerdings wesentlich überschritten, bleibt ein organisatorisches Eingreifen unvermeidlich, um den Zusammenhalt und die Bindung innerhalb eines gestellten Ordnungsrahmens weiter zu gewährleisten. Wie im persönlichen Bereich, ist dafür auch im gesellschaftlichen Bereich eine Resilienzstrategie, die stets eingreift, wenn der Toleranzrahmen überschritten wird, erforderlich. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die präventiv wirken, d. h. bereits sich anbahnende Störungen des Zusammenhalts und der Bindung begutachten, Lösungen anbieten und ggf. dafür sorgen, dass Verabredungen regelbasiert auch künftig eingehalten werden. 

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Blickwinkel

Stellen wir uns irgendeinen Gegenstand, auf den alle Blicke gerichtet sind, vor. Sehen wir alle dasselbe? Wenn es zum Beispiel ein Stein ist, sagen wir, es sei ein Stein und meinen das Gleiche, oder?

Bedenken wir, dass ein Gegenstand seine endgültige Einordnung erst im Gehirn des Betrachters erfährt, denn die Botschaft, welche der Stein bezüglich seiner Existenz sendet, erfährt seine Individualisierung erst in der Korrespondenz mit allen unseren individuellen, visuellen, kognitiven und emotionalen Sensoren. Es ist also logisch, dass jeder Mensch auf jeden Gegenstand seiner Betrachtung einen eigenen Blickwinkel hat, das Prüfverfahren routiniert, unterbewusst und blitzschnell erfolgt und sich in unserem Beispielfall darauf festlegt, dass es sich um einen Stein handele. Hier mag die Wahrnehmung noch keine besonders weitreichende Tragweite zu haben. Doch wie verhält es sich beim Betrachten und Beurteilen von Vorgängen, bei denen die Verabredung nicht so eindeutig erfolgen kann und Maßstäbe und Blickwinkel eine bedeutende und zuweilen entscheidende Rolle spielen?

Ist es da nicht so, dass wir auch hier sehen, was wir gewohnt sind zu sehen, und zwar auch dann, wenn wir wissen, dass Abweichungen von der Realität möglich sein könnten?

Wenn wir aber dann doch auf unsere Sichtweise bestehen und den Blickwinkel festlegen, machen wir dann nicht stets den Gegenstand unserer Betrachtung ausschließlich zur Eigenwahrnehmung unserer Gedanken und Gefühle? Kann das, was wir zu sehen glauben, nicht vielleicht auch eine Projektion dessen sein, was andere für uns verabredet haben? Alle Erfahrungen des Menschen sind einstudiert, beruhen auf Informationen, Training und Verabredung. Dafür sind Kompetenz, Sachverstand und Regeln erforderlich. Werden diese geschreddert durch behauptete Eindeutigkeiten der Betrachtung und Beurteilung, ist zu fragen, ob dieser Blickwinkel, den wir zum Maßstab unseres Sehens machen, nicht nur eine opportunistische Verarbeitung des Betrachtungsgegenstandes zulässt und diesen so verfälscht?

Wenn nicht mehr wichtig ist, was wir sehen, sondern behauptet wird, was wir glauben zu sehen sei zutreffend, entscheiden wir uns für einen verfremdeten Blickwinkel, der auf jegliche Wahrhaftigkeit verzichtet. Wenn wir uns darauf einlassen, beschränken wir uns auf eine uns aufoktroyierte Behauptung der Erkenntnis und verraten die Wirklichkeit.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Schmerz

„Schmerz, wo ist dein Stachel?“ In Abwandlung von Korinther 15, Vers 55 meine ich die lebzeitige Wahrnehmung des Schmerzes und nicht des Todes in Gefühlen und Gedanken.

Schmerzauslösend ist oft der Körper, der vereinzelt oder umfassend über die Nervenbahnen Impulse auslöst. Mit eingeschlossen sein sollten die seelischen Schmerzen, obwohl ein Organ, welches als Seele bezeichnet werden könnte, im menschlichen Körper nicht verifizierbar ist. Meist körperliche, aber auch sich geistig und seelisch manifestierende Schmerzen beziehen sich auf Umstände, die bei einem Menschen Empfindungen auslösen, die keiner körperlichen Wahrnehmung mehr zuzuordnen sind, aber gleichwohl vielfältige Reaktionen bei ihm hervorrufen können.

Weltschmerz ist dabei ein weiteres Stichwort. Dieser umfasst alle Bereiche der persönlichen und kollektiven Verfasstheit, ungeklärter Erwartungen und Versagens. Weltschmerz ist ein Sammeltopf für viele nicht eindeutig zuordenbaren schmerzliche Zumutungen in der Beziehung zu anderen Menschen, bei ungeklärten Umständen im persönlichen Bereich und in der Gesellschaft insgesamt.

Welches Zeichen vermittelt uns aber dieser Schmerz und welchen Sinn birgt er? Schmerz hat eine Warnfunktion, die jeden einzelnen Menschen davor schützen soll, sich in der Ich-Verwirklichung so zu verausgaben, dass sein Körper einschließlich seiner Seele und seiner Gedanken Schäden davontragen. Nicht nur als Korrektiv für unsere Maßlosigkeit, sondern auch als Erinnerung an unsere eigene Verletzlichkeit sollte der Schmerz uns aber bei der Bewältigung von Aufgaben helfen und uns ermahnen, anderen nicht zuzufügen, was wir selbst nicht erleiden wollen.

Der präventive Gedanke des Schmerzes wird herausgefordert durch den dem Menschen innewohnenden Willen, die existenziellen Begrenzungen zu überwinden. Soweit dies aber zur Verrohung und Abstumpfung führen sollte, mahnt der Schmerz uns, Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten und uns unserer Endlichkeit bewusst zu sein.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Recht und Gerechtigkeit

Gewaltenteilung, Gesetz, Judiz und Rechtsbefolgungswille, dies alles sind Begrifflichkeiten, die ein geregeltes Zusammenleben von Menschen, Bürgern und Nationen unter Einsatz der von ihnen geschaffenen Einrichtungen ermöglichen sollen.

Erodiert diese Akzeptanz der Regeln und des allgemeinen Rechtsempfindens unter anderem deshalb, weil Regeln und Gesetze nicht mehr dem Rechtsempfinden des Einzelnen und seiner Gruppe entsprechen, zum Beispiel, weil sie wirklichkeitsfremd konstruiert erscheinen, hat das zunächst Unruhe wegen unbefriedigter Erwartungen, dann aber auch Missachtung, Auflehnung und schließlich Verweigerung zur Folge.

Da ein Regelwerk nicht zwangsläufig ein anderes zu ersetzen vermag, bildet sich so ein Legitimitätsdefizit des Verfahrens an sich heraus, dass alle damit in Berührung tre­tenden Institutionen, seien es der Gesetzgeber, die Regierung und schließlich auch die Justiz mit umfasst. In deutlicher Konsequenz dieses Auflösungsprozesses bricht nicht nur die Gewaltenteilung in sich zusammen, sondern jegliche Ordnung.

Des „Volkes Stimme“ ist allerdings ein viel­fältiger Chor, der auch dann nicht strukturiert und belastbar Neues aus den Versatzstücken des vorhandenen, aber gewesenen Seienden schaffen kann, son­dern in einem langen Prozess der Ermöglichung herausfinden muss, was konsensfähig sein könnte. Sollte dieser demokratische Prozess anstelle einer auch möglichen Autokratie gewählt werden, so müssen zunächst die Regeln für diesen Findungsprozess wieder unter Berücksich­tigung eines eher diffus gebildeten Rechtsempfindens fest­gelegt werden, um zu vermeiden, dass irgendjemand das Heft des Handelns an sich reißt und demokratiegefährdende selbstbezügliche Anordnungen erlässt. Denn selbst dann, wenn Widerstand gegen eine Bevormundung generell bestehen sollte, verführen Erschöpfung und Ratlosigkeit Menschen dazu, eine Führerschaft dem Chaos und einer befürchteten Anarchie vorzuziehen, dies eingedenk der menschlichen Ei­genschaften, Belastungen nur zu einem bestimmten Maße zu ertragen und lieber Bequemlich­keit und Vorteilsgewinnung zum Maßstab des eigenen Verhal­tens zu machen.

Justitia ist nicht blind, wie Statuen und Abbildungen behaupten, sondern achtet sehr darauf, welche Maßstäbe wir ihr für die Begutachtung von Rechtsfällen an die Hand geben.

Nicht die Umstände begrün­den das Recht und die Gerechtigkeit, sondern es sind wir selbst, deren Maß­stab eher unser Eigennutzen ist. Recht und Gerechtigkeit verlangen dagegen von uns, dass wir nicht nur unsere eigenen Interessen im Auge haben, sondern begreifen, dass Gewaltenteilung und das Bemühen um Gerechtigkeit, auf der Abwägung unserer Interessen mit denjenigen anderer Menschen be­ruhen. Wenn wir uns darauf einlassen sollten, besteht unser Vorteil darin, dass auch wir zu­wei­len Profiteure dieser Verlässlichkeit sein könnten und uns Gerechtigkeit widerfahre.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Identität

Von „Cogito, ergo sum“ bis „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ reicht die menschlichen Experimentierfreude, die eigene Existenz zu ergründen, herauszufinden, wer man denn eigentlich sei.

Und, gelingt es uns? Naheliegenderweise prüft sich der Mensch zunächst im Spiegel. Wer schaut da zurück und zudem seitenverkehrt? Kenne ich diese Person, ist sie mir vertraut? Als Spiegelbild möglicherweise, aber nicht so, wie die Erscheinung im Spiegel vorgibt. Bin ich das? Wenn ich versuche, mich zu begreifen, womit fange ich denn an? Welche Hilfsmittel stehen mir zur Verfügung? Sind es die Funktionen meines Körpers, die Gedanken und die Gefühle? Einer möglichen Momentaufnahme meiner Selbstwahrnehmung begegnet der Einwand, dass sämtliche Lebensstationen mich geformt hätten, und zwar nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und auch die Erwartungen an mich in der Zukunft.

Die Zeit ist nicht abzustreifen wie eine Schlangenhaut. Nur, wenn alles Ich-Sein in seiner gesamten Totalität in mir versammelt ist, könnte dies meine Identität absichern, wobei auch diejenigen Umstände nicht zu vernachlässigen sind, die außerhalb meiner Person liegen, die mich ebenfalls formen und mich in meinem Ich-Sein bestätigen. Wie verlässlich kann aber eine solche Bestätigung sein, wenn der Blick anderer auf mich möglicherweise verfälscht oder gar zu flüchtig ist? Anderen die Bestimmung meiner Identität zu überlassen, erscheint mir daher unvollkommen.

Wie aber schaffe ich es, meine Eigenbetrachtung als authentisch zu begreifen? Soweit ich mich nur um Konkretheit bemühen wollte, dürfte dies aussichtslos sein, denn nicht nur meine Gedanken, sondern auch meine Empfindungen sind fast stets opportunistisch.

Schon aus Gründen meines Selbstschutzes bestätigen sie die Muster meines eigenen Wunschkataloges. Je intensiver ich versuche, mich selbst zu interpretieren und so meine Identität zu klären, desto weiter scheine ich mich dadurch von mir selbst zu entfernen, darauf hoffend, dass meine Existenz grundsätzlich nicht auf einem Trugschluss beruht. Ich also nicht sei, wer ich bin oder vorgebe zu sein.  

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Unbegrenzt

Die Annahme der Eingrenzung beruht auf der Erfahrung des Menschen, dass alles einen Anfang habe. Das Ende wird dabei von ihm mitgedacht. Geburt und Tod verbürgen die Richtigkeit dieser Annahmen. Sie verschaffen uns auch die existentielle Sicherheit des Daseins inmitten der Begrenztheit.

Was würde es aber für uns bedeuten, wenn dieses „Stirb und Werde“ in der Kosmologie des Seins tatsächlich nur eine untergeordnete Rolle spielte und das Ganze weder einen Anfang noch ein Ende hatte? Warum muss denn etwas anfangen und warum muss etwas zu Ende gehen? Könnte nicht auch alles in allem endlos sein, sich in der Grenzenlosigkeit ergänzen, spiegeln, immer wieder entstehen und untergehen, wobei jegliche Bestimmtheit aufgehoben ist?

Das Ewige, das wir zwar nicht greifen, aber ahnen können, kennt doch weder Anfang noch Ende, ermöglicht alles oder nichts. Der Ewigkeit ist mit keinerlei Berechnung beizukommen, weil eine Totalität, die sich jeglicher Bestimmung entzieht, sich auch nicht begrifflich rechtfertigen lässt.

So mag auch ein pulsierender Weltraum vielleicht keine Vergangenheit und auch keine beschreibbare Zukunft haben, entspricht aber unseren konkreten Erfahrungen und Anschauungen in der jeweiligen Zeit. Diese formen grenzenlos unser Bewusstsein und schaffen die Konkretisierung eines in seinem Wesen unerklärbaren Phänomens allen Seins und Sinnes.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Belichtungsmesser

Nur wenn alles seinem Plan entspricht und stimmt, das Licht, der Winkel, der Film und die Kamera, dann drückt Rainer H. Schwesig auf den Auslöser. So inszeniert der Fotograf seine Fotografien und wählt nach Erforderlichkeit diejenigen Gerätschaften aus, welche eine optimale Umsetzung seines Vorhabens versprechen. So kommen analoge Aufnahmegeräte, Polaroid-Kameras, aber auch digitale Geräte, und die damit korrespondierenden Filme zum Einsatz. Deren Wahl ist kein Zufall, sondern entspricht einer planvollen Vorbereitung, die der Stimmigkeit von Motiv, Tageszeit, Lichtverhältnissen, der Position des Gerätes, ja sogar des Entwicklungsprozesses des Filmmaterials von vornherein mit einkalkuliert.

Zuweilen bedient sich der bildgestaltende Fotograf bei seinen Aufnahmen auch weiterer Hilfsmittel, wie zum Beispiel des Einsatzes wertvoller Linsen wie der Hasselblatt bestückten Drohnen. Seine Schüler am Lette Verein Berlin, Fachbereich Fotografie, überrascht er bei der Erläuterung dieser Technik gern mit dem Hinweis, dass das Kameraauge je höher es fliegen würde, desto weniger zu sehen bekäme. Deshalb nähert er sich Motiven auch mit der Drohne sehr gern nur auf Stativhöhe oder maximal bis zu einer Höhe von 10 bis 25 m. Der erfahrene Fotograf vermittelt seine Kenntnisse und Erfahrungen zudem als Dozent an der Lette-Akademie, wobei er seine Studenten darauf hinweist, dass die adäquate filmische Wiedergabe prozessual alle Stadien der Gestaltung mit einschließt, also auch die Entwicklung des Films. Er nennt dies konzeptionelle Fotografie-Bearbeitung und ergänzt, dass Entwicklungsprozesse auch mit Kaffee gelingen. Es gehe dabei um die Abgabe von Elektronen.

Wow! Nichts bleibt also Zufall, sondern folgt einem sorgsamen von ihm verinnerlichten Regelwerk, das die technischen Konsequenzen berücksichtigt, aber natürlich auch und vor allem das Erzählen von Geschichten erlaubt. Seine Geschichten sind diejenigen von Landschaften in Deutschland und Italien, Gebäuden und Interieurs, weiter auch Begegnungen mit Menschen, insbesondere Modellen, die er sogar teilweise selbst in Szene setzt.

Alles scheint nahe an der Wirklichkeit zu sein, ist es aber nicht. Jede Fotografie ist damit sein Produkt, also dasjenige des Fotografen Rainer Schwesig. So kann er es sich erlauben, die Fotografien auf Ausstellungen oder auch in Bildbänden so miteinander in Beziehungen zu setzen, dass die von ihm jeweils adäquat gewählten Gestaltungen seine eigenen Geschichten sind. Die Rollen sind dabei von ihm vorgegeben, beruhen auf Erfahrung, Neugier, Eingebungen, Ideen, dem freien weiten Blick, aber auch viel Spaß und Emotionen, die ihm zum Einsatz der jeweils erforderlichen Technik inspirieren.

Der Betrachter seiner Werke, zum Beispiel der von ihm illustrierten „Haikus“, wird angeregt, das unterbreitete Angebot anzunehmen und aus den Bildern selbst auch wieder eigene Geschichten zu formen, diese ggf. weiterzuentwickeln oder seine bisherige Vorstellung angesichts der Fotografien und ihrer Präsentation zu überprüfen. Im Betrachten seiner Werke vollendet sich der Prozess des Schaffens und Erlebens von Fotografien mit Hilfe eines Mediums, und zwar des Fotografen Rainer Schwesig selbst.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Heinz Dürr Nachruf

Der Schwabe Friedrich Hölderlin sagte einst mal, dass der Tod ein Bote des Lebens sei und der Weimarer Johann Wolfgang Goethe ergänzte: „Mein Leben war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben werden musste.“ Das passt für Heinz Dürr, der auch den Schriftsteller und Dichter Goethe sehr verehrte.

Die Familie Dürr hat ihrer Traueranzeige den damit korrespondierenden Spruch vorangestellt, dass wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen sollten. Das Leben war für Heinz Dürr eine Aufgabe, die er pflichtgemäß zu erledigen hatte. Dieses Wälzen eines Steines, um im Bild Goethes zu bleiben, machte ihn zuweilen rastlos und ungeduldig. Die Ungeduld, die ihn trieb war aber konstruktiv, denn es gab immer viel für ihn zu tun. Er hatte sich der Arbeit verschrieben beim Aufbau der Dürr AG, als Verhandlungsführer bei Tarifkonflikten, als AEG- und Bahn-Chef, im „Forum für erneuerbare Energie“ zusammen mit der Schlecht-Stiftung in Stuttgart, in seiner eigenen Stiftung, der Heinz und Heide Dürr Stiftung, der Walther Rathenau-Gesellschaft und in vielen sonstigen ehrenamtlichen, privaten und öffentlichen Verpflichtungen.

Er war ein außerordentlich kluger und wichtiger Gesprächspartner, Ratgeber und guter Freund, voll Empathie, Witz und Wärme. Es war erfrischend, mit ihm zu sprechen und von ihm angesprochen zu werden. Jeder von uns hat diese Erfahrung gemacht. Er liebte Gedankenexperimente, hatte sich mit AI und KI auseinandergesetzt, auch etliche Bücher geschrieben und dabei zuweilen Cato, Ray Kurzweil und natürlich auch Walther Rathenau als seine Sparring-Partner für fiktionalen Gespräche bemüht.

Wie in „Die Physiologie der Geschäfte“ faszinierte Heinz Dürr im Sinne der Schriften von Walther Rathenau „Die kommenden Dinge“ – ebenfalls von Walter Rathenau – und was zu tun sei, um Fortschritt menschlich zu gestalten. Der Mensch sei kein Geschäftsmodell und Bildung von Anfang an sowie kulturelle Erfahrungen waren ihm genauso wichtig, wie wirtschaftliche Erfolge. Deshalb kümmert sich die Heinz und Heide Dürr Stiftung erfolgreich mit ihrem Early-Excellence-Programm um Kindergärten und Familien deutschlandweit, ferner um Autorentheater und andere kulturelle Vorhaben, aber auch um seltene Krankheiten, um nur einige der Aktivitäten der Stiftung zu nennen.

Bis zuletzt war Heinz Dürr nicht nur geschätzter Gesprächspartner für große Unternehmen, sondern auch in der Start-Up-Szene beratend aktiv. Er war ein integrer Mensch, der das beständige und entschiedene Handeln liebte.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Denkfabrik

Sind manche Menschen unfähig, überhaupt zu denken, haben sie aufgehört zu denken oder benötigen sie nur eine Anleitung zum Denken? Sind andere Menschen, die in Denkschulen, Denkfabriken oder Denkbanken organisiert sind, im Grunde ihres Wesens für das Denken zuständig, weil wir ohne deren Hilfe und Anleitung zum richtigen Denken ein erwartbares Denkpensum überhaupt nicht erledigen könnten? Sind – so wage ich es kaum zu denken – manche Menschen auch denkfaul, herzensfroh, dass andere für sie denken? Könnte es vielleicht aber auch so sein, dass sozusagen in vorauseilender Erwartungshaltung manche so von ihrem Denken überzeugt sind, dass sie meinen, dass andere ohne ihre Gedanken nicht zurechtkämen und sie daher die Weichen zum sinnvollen Denken anderer Menschen zu stellen hätten oder deren Denken durch ihr eigenes Denken sogar überflüssig machen könnten, also das Eigendenken ersetzen könnten durch das Fremddenken? Aber, wer benötigt dies? Besteht für dieses Vorhaben eine Nachfrage? Wahrscheinlich schon.

Gedankenmärkte boomen. Ratgeber jeder Art zum richtigen Denken sind Bestseller, unzählige Talkshows und Podiumsdiskussionen vermitteln eine Flut von Gedanken. Manche davon sind in der Tat originell, die meisten aber bekannt und rückbezüglich, also in dem Sinne, als würde ich denken und sagen, was andere schon gedacht und gesagt haben. Schon deshalb müssten sie richtig sein. Man müsste ihnen also vertrauen können. So werden die Gedanken wie der alte Wein in „neuen Schläuchen“ attraktiv verpackt, als Neuerung gepriesen, unbeschadet jeden Realitätsstresses, der beweisen könnte, dass der Urheber des angeblich so neuen Gedankens sich schlicht und einfach einer neuen Begrifflichkeit bedient hat, um Gedankenprodukte auf den Markt zu bringen.

Gedanken, die in einem Sinnzusammenhang stehen, müssen das Denken anderer Menschen mitbedenken und sich einfügen in ein System des Denkens, das keinen Alleinstellungsanspruch für sich erhebt, denn im Angebot des Mitdenkens liegt eine Aufforderung an alle Denkwilligen, sich ebenfalls kritisch oder unterstützend mit ihrem Denkpotential in den institutionellen Prozess einzubringen. Das ist eine gute Möglichkeit, der Vereinsamung des Denkens zu begegnen und dabei auch unter Berücksichtigung der Umstände den ganzheitlichen Aspekt des Denkens zur Geltung zu bringen.

Denken ist nicht nur ein kognitiver, rationaler Vorgang, sondern auch ein emotionaler und schließt mehr ein, als die eigene Verortung im Denken, die durch Denkfabrikate geschaffen werden. Produkte jenseits unseres Verstandes, jenseits unseres Wissens und Erfahrung sind gefragt. Sie mehren unsere Vielfalt des Denkens, um auf diese zu gegebener Zeit bei entsprechender Nachfrage zurückgreifen zu können.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski

Media Overflow

Sollte ich etwa behaupten, dass es ein mediales Überangebot gäbe, würden mir wahrscheinlich etliche Menschen zustimmen. Einmal unterstellt, dies wäre richtig, so kommt es dabei, so meine ich, weniger auf das vielfältige Medienangebot an sich an, sondern vielmehr auf dessen Wirkung im Empfängerbereich. Die Empfänger, das sind letztlich wir, als die Konsumer aller medialen Botschaften.

Und wer sind wir? Wir sind die Menschen, die hochbegabt und emsig die technischen Voraussetzungen geschaffen haben, die das hohe Medienangebot ermöglichen und uns dessen Konsum auch zur Verfügung stellen. Und genau da scheint mir auch ein Problem aufzutauchen. Es ist so mit dem Konsum jeglicher Ware: Irgendwann macht er uns satt, wir haben genug davon und erkranken sogar an ihr. All dies ist auch bei dem Konsum von Medienartikeln nicht ausgeschlossen. Deshalb gibt es zunehmend Warnhinweise und nicht nur solche, die sich an Kinder richten.

Aber, wo beginnt das schwer konsumierbare, also schwer verdaubare Angebot? Meines Erachtens bereits mit dem medialen Erstkontakt. Weshalb? Weil wir Menschen weder über die Speicher, noch über ausreichende Verarbeitungsfähigkeit verfügen, differenziert und ganzheitlich permanente Medienangebote abrufbar zu speichern und zu verarbeiten. Wir behelfen uns mit der flüchtigen Lektüre, dem Wegdrücken von Informationen und der Einschaltung von KI zu deren jederzeitiger Reproduktion. Damit versuchen wir, einen Teil unseres eigenen an sich erforderlichen medialen Verarbeitungsprozesses auszulagern, allerdings ohne dabei zu berücksichtigen, dass dies vielleicht nur dann möglich sein kann, wenn uns bei Bedarf das richtige Stichwort wieder einfällt oder irgendjemand oder irgendetwas uns sagt, wo wir welche Informationen hinterlegt haben.

Dessen ungeachtet – so meine ich – nutzen Informationen sich auch ab, d. h. je mehr Informationen wir empfangen, desto mehr verlieren sie an Komplexität, erstarren in einem Muster, das uns selbst lediglich als Bestätigung des bereits Gehörten oder Gesehenen dient und passgerecht geformt wird. Dabei handelt es sich um einen sehr menschennahen Prozess der Vereinfachung und Bestätigung. Je umfassender das mediale Angebot ist, umso bereitwilliger filtern wir das nur uns Bekannte heraus und für den Rest gilt: ab in die Tonne.

So versuchen wir, der eigenen und letztlich auch der kollektiven medialen Überforderung zu entgehen und einen Rest von Sicherheit angesichts des ungeheuren medialen Angebots zu bewahren. Denn kein Mensch ist in der Lage, alles, was ihm medial angeboten wird, aufzunehmen, zu begreifen und gar zu verarbeiten. Die damit verbundene, aber unterdrückte Unsicherheit verstärkt den Prozess des individuellen Widerstandes gegen bestimmte Informationen und deren gemeinschaftlichen medialen Akzeptanz.

Dies schafft Konformität im medialen Konsum, in der Speicherung und der Verarbeitung. Damit wirken Medien entgegen ihrer Intentionen im Ergebnis antiliberal, ja, es ist sogar zu befürchten, dass die demokratische Pluralität und auch die individuelle Wesenheit des Menschen durch das Überangebot an medialem Einfluss erheblichen Schaden nimmt.

Hans Eike von Oppeln-Bronikowski